Ungezaehmte Begierde
ihre Schulter und drückte sie. »Verschwende nicht so viel Zeit mit Rache, dass du darüber ganz vergisst zu leben.«
»Es geht aber nicht um Rache.«
»Um was dann, Rehauge?«
»Es ist … meine Berufung. Ich hasse Mörder. Alle.« Sie stöhnte. »Also doch Rache, oder? Jedes Mal, wenn ein Mord geschieht, frage ich mich, ob es derselbe Kerl ist. Ob ich ihn dieses Mal vielleicht erwische.«
Sie schwieg eine ganze Weile, als sinne sie über diese Erkenntnis nach. Schließlich zuckte sie mit den Achseln.
»Wen interessieren schon meine Motive? Es ist meine Arbeit, und die mache ich gut.«
Erneut drückte er ihre Schulter. »Was ist geschehen, nachdem deine Mutter tot war? Hat dein Dad dich großgezogen?«
Sie gab ein missbilligendes Schnauben von sich. »Nein.«
In diesem einen Wort schwangen erstaunlich viele Emotionen mit, Emotionen, die er auf seiner Zunge schmeckte. Wut. Verletztsein. Und eine große Enttäuschung, deren Geschmack ihm nur allzu bekannt war.
»Mein Vater war der Ansicht, dass er sich nicht zum Alleinerziehenden eignete. Fünf Tage, nachdem ich meine Mutter verloren hatte, hat er mir alles genommen, was mir vertraut war – mein Zuhause, meine Freunde, die Schule, meine Katze –, und mich auf der Türschwelle meiner Tante abgeladen, die mehr als zwei Stunden entfernt wohnte. In seiner ganz eigenen Logik war das vermutlich sogar die perfekte Lösung. Ich brauchte eine Mutter und meine Tante brauchte Hilfe. Sie war alleinstehend und hatte vier kleine Kinder. Nur dass ich keine Mutter bekam. Ich erhielt einen unbezahlten Vierundzwanzigstundenjob. Ich wurde Babysitter, Köchin, Hausmeister, einfach alles zusammen.«
»Aschenputtel«, murmelte Tighe.
Sie schnaubte. »Glaub mir, das habe ich mindestens zehn Mal am Tag gedacht. Was natürlich lächerlich war. Immerhin hat man mich nicht missbraucht. Zumindest … Na ja, ist auch egal.«
Tighe sah zu ihr hinüber. Ihr abruptes Schweigen sagte alles. Er strich ihr über die Haare. »Ich würde gern alles hören. Aber ich will nicht, dass du dadurch noch mehr leidest.«
»Es ist nicht … ich meine …« Sie holte tief Luft und stieß sie dann langsam wieder aus. »Als ich sechzehn Jahre alt war, ist der Freund meiner Tante zu uns gezogen.«
Ach, verdammt. Tighe hatte Angst vor dem, was nun kam.
»Ganze fünf Monate hat er es geschafft, die Finger von mir zu lassen, aber er hat mich immer beobachtet. Ich wusste, dass er mich beobachtete. Zwei Tage nach meinem siebzehnten Geburtstag hat er schließlich gehandelt.«
Tighe klammerte sich an das Lenkrad, und die Wucht seiner Wut überraschte ihn. »Er hat dir wehgetan.«
Sie sah ihm mit eisernem Blick in die Augen. »Nein. Er hat mich begrabscht und wollte mich küssen. Aber ich habe ihm mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzt und ihm meine Faust ins Auge gedonnert.« Sie klang geradezu zufrieden.
Tighe lächelte grimmig. »Gutes Mädchen.« Er stutzte. »Hat er sich dann gerächt?«
»Nicht direkt. Meine Tante hat mich in jener Nacht vor die Tür gesetzt und gesagt, ich solle mich nicht mehr blicken lassen. Ich weiß nicht, was er ihr erzählt hat.«
»Bist du zu deinem Vater zurückgegangen?«
»Nein. Ich hatte ihn seit meinem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen. Er hatte mich zwar noch ein paar Mal bei meiner Tante besucht, aber ich wollte nicht mit ihm sprechen. Ich war so wütend, weil er mich verlassen hat.« Sie stöhnte. »Ich war eine solche Zicke.«
»Nein. Dein Ärger war ganz berechtigt. Wenn ein Mann mit einer Tochter gesegnet ist, hat er sie zu beschützen. Was auch passiert.« Er spürte einen stechenden Schmerz in seinem Herzen und klammerte sich noch fester an das Lenkrad.
Er war doch kein Stück besser als Delaneys Vater. Wie lange hatte Amalie nach ihm geweint? Wie lange hatte sie ihn gehasst?
»Danke«, erwiderte Delaney leise. »Ich habe ihm nie verziehen. Vielleicht wäre er sonst später für mich da gewesen.«
Er blickte sie an. »Was hast du dann getan? Siebzehn Jahre, das ist ziemlich jung, um schon auf sich allein gestellt zu sein.«
»Ich habe mir einen Job als Kellnerin gesucht und bei einer Dame in der gleichen Straße ein Zimmer gemietet. Nach der Highschool habe ich das College absolviert – mit dem Ziel, den Mann zu finden, der mein Leben ruiniert hatte, und all die anderen, die ganz genauso sind wie er. Rache.« Sie gähnte herzhaft. »Wie du schon gesagt hast.«
»Du bist müde.« Tighe tippte sich mit der Hand auf den rechten Oberschenkel.
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