Ungezaehmte Nacht
Daumen streichelte die empfindsame Innenseite ihres Handgelenks gleich über ihrem schnell pochenden Puls. »Ich sehe Schatten in deinen Augen, die noch nicht da waren, als du erwachtest.«
»Mein Leben hat sich rasend schnell verändert, Nicolai«, antwortete sie. »Du musst verstehen, dass ich aus dem Gleis und sehr verwirrt bin. Ich wünschte, mein Bruder wäre hier.«
»Du hast mich, Isabella. Du bist nicht allein.«
»Ich weiß.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und zog ihre Hand zurück, um einen Schluck Tee zu trinken. »Es ist nur Nervosität.«
»Du brauchst noch nicht nervös zu werden, cara . Ich habe mit dem Priester gesprochen, um Sarina keine weitere Gelegenheit zu geben, uns Vorhaltungen zu machen. Er ist bereit, die Trauung in vierzehn Tagen vorzunehmen. Es tut mir leid, dass wegen der Eile keine Botschafter bei der Hochzeit zugegen sein werden – denn das verdientest du –, doch es ist das Beste für uns, schnell zu heiraten.«
»Das stört mich nicht. Ich will sowieso nicht von so vielen Leuten angestarrt werden«, sagte Isabella. »Ich finde, eine kleine Trauung wäre genau das Richtige. Aber Lucca wird enttäuscht sein, wenn er nicht dabei sein kann.« Ihr Herz schlug so laut, dass sie befürchtete, Nicolai könnte es hören. »Er müsste doch schon sehr bald hier sein, oder?« Isabella war nicht sicher, ob sie mit der Hochzeit warten wollte, bis ihr Bruder kam, weil Lucca gern daran teilnehmen würde, oder ob sie nur nach einem Vorwand suchte, das Unvermeidliche hinauszuschieben. Wenn sie bei Nicolai war, war sie seltsam fasziniert, ja nahezu überwältigt von ihrer eigenen Hingezogenheit zu ihm und seinem offenkundigen Verlangen nach ihr.
Nicolai hob langsam die Teetasse an die Lippen, ohne den Blick von Isabellas Gesicht abzuwenden. Es war Jahre her, seit er in Gesellschaft eines anderen menschlichen Wesens eine Mahlzeit eingenommen hatte. Er musste wieder ganz von vorn Manieren lernen.
Es gab keinen Gesichtsausdruck Isabellas, den er nicht deuten konnte, keinen Gedanken von ihr, den er nicht erraten konnte. Furcht hatte sich in ihre Beziehung eingeschlichen, und er sah keine Möglichkeit, diese Furcht zu lindern.
Isabella konnte das leichte Zittern seiner Hand und die plötzlichen Schatten in seinen Augen sehen, und trotz ihrer Panik flog ihr Herz ihm zu. »Nicolai«, begann sie leise, »ich weiß, dass du Angst um mich hast. Sag mir, warum du so besorgt bist! Wenn du solch mächtige Raubtiere wie Löwen beherrschen kannst, warum solltest du dann Angst um mich haben?«
Er löste den Blick von ihr, und Isabella sank das Herz. Sie betrachtete aufmerksam ihr Essen, weil sie sich nicht zutraute, ruhig und gelassen auszusehen, wenn er ihr seine geheimsten Ängste offenbarte. Sie konnte spüren, wie sie innerlich zu zittern begann, und als dieses Zittern auf ihre Glieder überzugreifen drohte, faltete sie schnell die Hände unter dem Tisch.
»Ich würde dir die Wahrheit lieber ersparen«, sagte er leise.
Aber Isabella hob das Kinn und nahm ihren ganzen Stolz und Mut zusammen. »Ich glaube nicht, dass es viel genützt hat, deiner Mutter die Wahrheit zu ersparen. Ich ziehe es vor, so viel zu wissen, wie ich kann.«
Nicolai stellte mit übertriebener Vorsicht seine Tasse auf den Tisch, aus Furcht, sie zu zerbrechen. Einer der Dienstboten schaute kurz in den Saal, verzog sich aber schnellstens wieder, als der Don ihm einen schnellen, ärgerlichen Blick zuwarf. »Meine Vorfahren haben mit dieser Gabe – oder diesem Fluch, wenn es dir lieber ist – gelebt, wie ich es tue. Doch da ist ein kleiner Unterschied.« Er seufzte leise und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, sodass es sich aus dem Zopf löste und ihm um Gesicht und Schultern fiel. »Ich konnte die Löwen schon ›hören und verstehen‹, als ich noch ein Baby war. Ich krabbelte zu ihnen hin, ja kuschelte mich zum Schlafen sogar an sie. Soweit ich weiß, war das etwas noch nie Dagewesenes. Die Fähigkeit, die Löwen zu beherrschen und zu verstehen, entwickelte sich bei meinen Vorfahren immer erst viel später in ihrem Leben.«
Isabella befeuchtete die plötzlich trockenen Lippen. »Wie viel später?«, fragte sie gespannt und bohrte die Fingernägel in ihre Hände.
»Lange, nachdem sie erwachsene Männer waren.« Endlich schaute er sie wieder an, und sie konnte die Qual in seinen Augen sehen. »Ich liebte die Löwen und meine Fähigkeit, mich mit ihnen zu verständigen. Sie war ein Teil von mir, etwas ganz Natürliches für
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