Ungezaehmte Nacht
Alter ihr heute deutlich anzusehen war. »Verzeiht mir, Isabella! Ich habe Euch so ins Herz geschlossen. Ich hätte nicht so schnell bereit sein sollen, Euer Leben unseretwegen aufs Spiel zu setzen.« Sie ließ den Kopf hängen. »Erinnert Ihr Euch an die Schreie, die Ihr in jener ersten Nacht hörtet, in der Nacht Eurer Ankunft, als die Löwen brüllten?«
Isabella wandte sich von der Wirtschafterin ab, und ihr lief es eiskalt über den Rücken. Sie hatte es wissen wollen. Von jener allerersten Nacht an hatte sie wissen wollen, was geschehen war. Aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Nicolai hatte eine Besprechung mit seinen engsten Vertrauten, Sergio Drannacia, Rolando Bartolmei, Betto und einem Mann namens Guido.«
Isabella trat einen weiteren Schritt zurück und schüttelte den Kopf.
»Ihr solltet es wissen«, beharrte Sarina müde. »Ihr müsst es wissen. Nicolai liebte Guido und vertraute ihm, wie er seinen Hauptmännern vertraut. Sie waren alle Freunde aus Kindertagen. In jener Nacht brach jedoch ein fürchterlicher Streit aus, weil Guido wollte, dass Nicolai Euch fortschickte. Niemand weiß, was wirklich geschah – ob es Nicolai oder ein anderer Löwe war, der Guido tötete, doch er wurde in Fetzen gerissen. Es war ein merkwürdiger Streit. Sie hatten noch nie zuvor die Stimmen erhoben, sich angeschrien oder beleidigt, aber in jener Nacht tat Guido es.« Sarina seufzte leise. »Betto war sehr erschüttert von dem, was gesagt wurde. Er erzählte mir, dass er Guido kaum noch wiedererkannt habe. Guido gefiel sich in der Rolle des Frauenhelden und war oft aufdringlich den Dienstmädchen gegenüber, doch er war kein Mann, der laut wurde und sich im Ton vergriff. Am Ende schrien sich jedoch alle an, und Nicolai sagte Guido, er solle einen Spaziergang unternehmen. Das Letzte, was irgendeiner in jener Nacht von Nicolai sah, war, dass er vom Palazzo wegging. Das nächste Mal, als Betto ihn erblickte, stand er, über und über mit Blut besudelt, vor dem toten Guido. Er sah aus wie ein Löwe mit seiner langen, zotteligen Mähne, aber es war Nicolai. Für uns war er unverwechselbar der Don.«
Isabella verschränkte ihre Finger hinter dem Rücken, um ihr Zittern vor der Wirtschafterin zu verbergen. Ihr Herz raste vor Beunruhigung; sie konnte sich nicht bewegen, ja nicht einmal atmen.
Sarina wollte sie trösten, doch Isabella schüttelte den Kopf, wandte sich ab und versuchte verzweifelt, sich zusammenzunehmen. »Ich bin die Herrin meines Schicksals, Sarina. Ich habe mich freiwillig auf den Handel eingelassen, aber ich bin sicher, dass Don DeMarco mich gehen lassen würde, falls ich es mir anders überlegen sollte. Ich bin keine Gefangene und kein Opfer.«
»Ihr seid jetzt hier gefangen. Es gibt keine Möglichkeit für Euch, das Tal noch zu verlassen«, widersprach Sarina traurig.
Isabella wartete schweigend, während ihr Herz vor Furcht schier zu zerspringen drohte. Nicolai war von diesem hübschen Kind, das seinen Leuten Freude machte, zu einem mächtigen, gefährlichen und geheimnisvollen Mann herangewachsen, zu einem Mann mit einem sündhaft verführerischen Lächeln und der Verheißung erotischer Freuden in den glühenden Augen. Ihr Herz hielt sie in dem Tal gefangen, ihr Herz und ihre Treue einem Mann gegenüber, der bereit gewesen war, um das Leben eines Fremden zu feilschen. Isabella hielt ihre Versprechen. Ihr Ehrenwort war ihr heilig. Sie wollte nicht glauben, dass irgendetwas anderes sie hier festhielt, denn das hieße, den Teufel an die Wand zu malen. Sie und nur sie bestimmte über ihr Schicksal.
»Nicolai wird mir nichts zuleide tun, Sarina«, sagte sie schließlich ruhig. Ihr Herz glaubte fest daran, aber ihr Kopf war eigensinniger und erinnerte sie an die nadelspitzen Krallen, die ihre Schultern durchbohrt hatten. Für einen beängstigenden Moment brannten und pochten die Wunden wie zur Erinnerung daran. Hatte Nicolai seinen Freund getötet? Einen Mann, der ihm vertraut und ihm gedient hatte? War das möglich?
Sarina ging zum Schrank. »Wenn Ihr mit ihm den Morgentee einnehmen wollt, müsst Ihr Euch mit dem Ankleiden beeilen. Zieht etwas Hübsches an, Isabella, das wird Euer Selbstvertrauen stärken!« Sie öffnete weit die beiden Türen des Schrankes und schrie auf, bevor sie es verhindern konnte.
»Was ist?« Isabella zog fest ihren Morgenmantel um sich und ging zu Sarina, um entsetzt den Boden ihres Kleiderschrankes
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