Ungezaehmtes Verlangen
Sie waren ja keine Menschen. Lieber Gott, sie selbst war auch kein Mensch.
Lyon ließ sie los, wandte sich abrupt um und schritt davon.
Kara lief hinter ihm her. »Lyon!«
Mit abweisendem Ausdruck drehte er sich zu ihr um. »Du hast keine Wahl.« Seine Stimme klang harsch. Wütend. »Du musst den Thron besteigen. Und Vhyper ist der Einzige, der dir dabei helfen kann.«
Kara starrte ihn an und hatte das Gefühl, vor ihr tue sich ein Abgrund auf. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie ihre Mutter verloren, ihr Zuhause, ihre gesamte Welt, sogar ihr gewohntes Selbst. Doch bei alledem hatte wenigstens Lyon ihr zur Seite gestanden und den Schock über diese Verluste erträglich gemacht. Sie hatte ihm vertraut.
Und er hatte sie betrogen.
Das war zu viel. Sie sank auf dem harten Boden auf die Knie nieder und schlang die Arme um ihren Körper, als könnte sie so verhindern, in tausend Stücke zu zerspringen. Das Kleid lag wie ein See aus glitzernden Tränen um sie herum.
»Kara …« Aus Lyons Stimme klang derselbe Schmerz, den auch sie fühlte. »Es tut mir leid.«
Aber als sie aufsah, war er bereits gegangen.
*
Kara wusste nicht genau, wie lange sie dort in dem verrauchten Raum der Paarungzeremonie gesessen hatte, während die Stimmen um sie herumschwirrten. Sie hörte ungläubige Äußerungen. Äußerungen von Bedauern und Wut.
Eine schneidende Stimme stach aus den anderen hervor. »Wenn Lyon sie noch einmal anfasst, bringe ich ihn um.«
»Du solltest Lyon besser kennen, Vhyper. Er würde dich niemals betrügen.«
»Nein. Das würde er nicht.« Aber die Worte klangen eher wie eine Bedrohung und nicht wie eine Vertrauensbekundung.
»Ich mache dir keine Vorwürfe, dass du außer dir bist, mein Freund. Bei uns allen hängt die Selbstbeherrschung an einem seidenen Faden. Das ist bei Lyon auch nicht anders.«
»Ich habe gesagt, ich bringe ihn um!«
Kara zitterte und fühlte sich zerschlagen. Gebrochen. Sie wollte nichts weiter hören. Also stand sie auf, wischte sich die Tränen von den Wangen und ging auf den Eingang zu.
Vhyper stellte sich ihr in den Weg. »Du gehörst zu mir, Strahlende. Die gehst zu niemand anderem als zu mir.«
Kara erstarrte, und sie fröstelte, als sie in seine kalten Augen sah. »Ich brauche Zeit. Du musst mir Zeit lassen.« Ein Schluchzen löste sich aus ihrem Hals und erstickte ihre Stimme. »Das ist alles zu viel für mich.«
»Lass sie heute Nacht allein, Vhyper.« Tighe kam zu ihnen. Die gelben Tigeraugen waren verschwunden und grünen Menschenaugen gewichen. »Sie war nicht darauf vorbereitet.«
Vhyper beugte den Kopf zu Tighe und verzog den Mund zu einem Grinsen, das sich schnell in ein höhnisches Lachen verwandelte. »Ich habe deine Zunge gesehen, Tighe. Du willst dich wohl selbst ein bisschen mit ihr amüsieren?«
Tighe fauchte, seine Augen wurden wieder zu denen eines Tigers, und seine Reißzähne wuchsen in die Länge.
Doch Vhyper beachtete ihn nicht weiter, sondern packte Kara und riss sie grob an sich. »Sie gehört mir .«
Das war einfach zu viel! Was sie an Selbstbeherrschung besessen hatte, ging in einer Panikattacke unter. Ihr Geist kreischte auf, während sie gegen den deutlich stärkeren Krieger ankämpfte, sich gegen seinen Griff wehrte und mit dem nackten Fuß gegen sein Bein trat. Aber Vhyper klemmte sie sich einfach unter seinen Arm.
»Lass mich los!«
» Vhyper .« Es war die Stimme eines anderen Kriegers. Wulfe? »Wenn du ihre Zuneigung gewinnen willst …, was ja dein Ziel sein sollte , so ist das nicht der richtige Weg. Dafür wird sie dich hassen.«
»Kümmere dich um deine Sachen.« Vhyper drehte sich um und schleppte sie zur Tür.
»Nein!«, schrie Kara.
Paenther trat nach vorn und blockierte den Ausgang. »Warte, Vhype.« Erstaunlicherweise blieb ihr Entführer nun stehen. »Kara.« Aber in ihrer Verzweiflung konnte sie nicht aufhören zu kämpfen. »Kara, hör zu!«
Sie spürte, wie sich eine Hand fest um ihren Kiefer schloss, und sah in Paenthers schwarze Augen. Trotz ihrer Härte wirkten sie nicht unfreundlich.
»Ich kenne Vhyper fast mein ganzes Leben lang. Er ist ein guter Kerl.« Kara gab einen Laut von sich, der ihre Zweifel zum Ausdruck brachte, und versuchte, sich aus seinem Griff loszureißen, doch er hielt sie weiter fest. »Im Augenblick ist er eifersüchtig und leidet wie wir alle unter der fehlenden Strahlung. Aber wenn du erst den Thron bestiegen hast, wird er dir ein guter Mann sein. Wenn ihr euch erst besser
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