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Ungezogen

Ungezogen

Titel: Ungezogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsay Gordon
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sich selbst zu erkennen, als sie im gleichen Alter gewesen war. Und während die üblichen Witze darüber gemacht wurden, wie man eine alte, sonderbare Jungfer bei Laune hielt, mochte Eliza die alte Dame wirklich gern.
    Einmal abgesehen davon, dass diese es einfach nicht lassen konnte, sich einzumischen.
    Augusta war eine unabhängige, selbstbewusste und sehr gewitzte Geschäftsfrau. Eliza konnte wirklich nicht sagen, wie oft sie die Welt bereist hatte. Sie kannte Augustas Standardparole schon auswendig, wenn sie aufs Thema kamen.
    »Meine Liebe«, pflegte sie zu sagen, »Einsamkeit solltest du in deinem Leben nicht zulassen. Deine gute Herkunft öffnet dir so manche Türen. Sie können sich aber auch vor dir verschließen, wenn du bestimmte Anstandsregeln nicht beherzigst. Wenn du das nicht tust oder dich dagegen auflehnst, wirst du wahrscheinlich einen hohen Preis bezahlen. Aber Strafe und Belohnung liegen nahe beieinander.« Tantchen musste es ja wissen.
    Eliza verdrehte die Augen und legte die Einladung auf den Kaminsims, von wo aus die Karte sie anstarrte. Schließlich war es nur eine Dinnerparty. Augusta hatte ihr sogar einen alten Pelzmantel geschickt, eine wunderbare Verlockung und Bestechung zugleich. Die Einladung hatte noch den Hinweis enthalten, dass Augusta auch einen Coach für Etikette eingeladen hatte. Offenbar war Augusta von anderen älteren Verwandten über Elizas kleine Aufmüpfigkeiten informiert worden, die zu Diskussionen Anlass gegeben hatten.
    Wäre jemand anderes auf eine solche Idee gekommen, hätte Elizas Blut gekocht. Aber weil es Tantchens Idee war, erreichte es nur knapp den Siedepunkt. Eliza hatte einen Plan, nichts Schockierendes, aber immerhin zauberte er für den Rest des Tages ein Lächeln auf ihr Gesicht.
    Die Standuhr hatte bereits acht Uhr geschlagen, als Eliza das extravagante, diskrete Restaurant betrat. Nicht ganz pünktlich, aber auch nicht übermäßig spät, was allerdings nach Augustas Maßstäben und auch denen des Benimmlehrers sicher keinen Unterschied machte.
    Es bedeutete, dass sie sich ganz einfach nicht bemüht hatte, pünktlich zu sein. Eliza gab dem Oberkellner ihre Clutch und schälte sich aus dem Pelz. Sie beobachtete erfreut sein peinlich berührtes Gesicht im Spiegel, als ihr Kleid - beziehungsweise ihre langen Beine - zum Vorschein kamen. Der Saum umspielte gerade noch zulässig ihre Oberschenkel. Würde man sich mit dem Outfit in der falschen Firma nach vorn beugen, könnte es zu internationalen Verwicklungen kommen. Insgeheim hoffte sie, dass Augusta einen Botschafter, am besten sogar zwei, zu diesem Abend eingeladen hatte. Der perlenbesetzte, schimmernde Saum ihres dünnen, glänzenden Kleides klimperte bei jedem Schritt um ihre Oberschenkel. Mit essigsaurem Gesicht hatte der Oberkellner pikiert ihre Sachen einem anderen Keller in die Hand gedrückt und sie zu Augustas privatem Speiseraum geführt.
    Wie vorherzusehen, erstickten drei Männer fast an ihren Zungen oder zumindest an ihren Drinks, als sie erschien. Eliza bedachte jeden mit einem blasierten Lächeln und fragte sich, wer von ihnen der Auserwählte war.
    Der dicke Kahlkopf mit dem verschwitzten Gesicht? Nein. Unmöglich. Ein zu schlechter Witz in der Welt der Etikette.
    Der Guterzogene - Oxford-Schule und Daddys Geldvernichter? Unwahrscheinlich.
    Höchstwahrscheinlich war das also ihr Hauptgewinn an diesem Abend, dachte sie und unterdrückte einen resignierten Seufzer: ein Altertümchen, das zusammengeklappt wie ein Zollstock neben Augusta saß. Missbilligender Blick in ihre Richtung. Bingo!
    Der vierte Mann in der Gruppe entging ihrem Urteil. Einerseits weil sie rasch zwei Gläser eines sehr edlen Sancerre gekippt hatte und andererseits, weil sich etwas in ihr verflüssigte, als sie ihn ansah.
    Das Erste, was ihr an ihm auffiel, waren seine Augen: leuchtend, flink und voller Intelligenz und Interesse. Sie schimmerten so tiefgrau, dass sich Eliza über die wahre Farbe nicht im Klaren war. Er hatte markante Gesichtszüge, hohe Wangenknochen und einen festen Kiefer. Sein sinnlicher Mund öffnete sich leicht, als sich ihre Augen endlich trafen. Nein, er lächelte nicht wirklich. Es war ein wölfisches, wissendes Grinsen.
    Eliza beobachtete ihn über den Rand ihres Glases, wie er einen BlackBerry hervorzog, seine Mitteilungen checkte und ihn wieder einsteckte. Geschäftsmann? Vielleicht. Erfolgreich, so wie er aussah, aber das konnte täuschen. Allerdings umgab ihn diese ruhige, selbstsichere Aura.

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