Ungleiche Paare
das. Das Zen-Zentrum lag an der engsten Stelle des ohnehin engen Tals. Zu beiden Seiten ragten schroffe Kalkfelsen gut hundert Meter hoch aus dem Wald. Nur mittags warf die herbstliche Sonne einen Blick auf uns. Sonst lag das Dojo im Schatten. Gleich hinterm Haus wand sich die Straße um die Füße der Felsen. Nach vorne neigte sich ein kleiner Gemüsegarten zum Ufer der Donau, die schwarz und blasig, kaum breiter als ein Feldweg, vorbeiströmte. Am jenseitigen Ufer, zwischen Fluss und Felsen, rollte alle zwei Stunden ein Zug vorbei. Ein echohaft verstärktes Getöse eilte ihm voraus; eine grollende Schleppe folgte ihm. Der Zen-Pater riet uns, dergleichen Geräusche als Dharma Bell zu nehmen – als Erinnerungsglocke, um tiefer in die Versenkung zu tauchen.
»Und dürfen wir jetzt wieder vögeln?«, fragte Lena am letzten Tag des Retreats, unmittelbar nachdem das vorgeschriebene Schweigen aufgehoben worden war. Wir hatten gerade zum letzten Mal das spezielle unverdauliche Vollkornbrot des Hauses Bissen für Bissen im Munde zerkleinert. Man war angehalten, kontemplativ auf dem breiigen Klumpen herumzukauen, um ihn schließlich in reinem Gewahrsein zu schlucken und in stiller Achtsamkeit seinen Weg durch die Speiseröhre zu bezeugen.
Lena sah den weißhaarigen Meister frech und lebensprall an. Die anderen duckten sich.
»Natürlich dürft ihr«, sprach er mit dem preisgekrönten Lächeln erleuchteter Unerschütterlichkeit.
»Juchhu!«, platzte Lena heraus.
Nix dazugelernt, dachten die anderen.
»Aber nicht hier«, ergänzte der Weise.
»Okay.« Es klang schnippisch. Sie sprang auf, um ihre Sachen zu packen, als wäre sie soeben begnadigt und aus der Haft entlassen worden. Ein bisschen traf das auch zu. Ich bemühte mich, durch betont langsame Bewegungen beim Verlassen des Raumes den allzu unbekümmerten Ein druck zu dämpfen. Mein spirituell verfeinertes Lächeln prallte ab an der steinernen Miene der übrigen Teilnehmer.
Also gut, im Zen-Dojo nicht. Was blieb uns anderes übrig, als ein Zimmer im einzigen Hotel des Ortes zu mieten, im klostereigenen Pelikan ? Gegerbte katholische Witwen bewohnten das Haus. Auf Spaziergängen und bei gregorianischen Chorälen in der Abteikirche erholten sie sich von langen, duldsamen Ehen. »Wir nennen sie Strohblumen«, plauderte das Mädchen an der Rezeption.
Das Hochzeitszimmer war frei. Bitte sehr. Der Preis füreine Übernachtung samt Frühstück war fällig, obgleich uns nur drei Stunden blieben. Am Abend würde der Zug via Donaueschingen und durch den Schwarzwald nach Offenburg fahren, von dort nach Norden. Die anderen Retreat-Teilnehmer besuchten noch einmal die Vespergesänge in der weihevoll geräucherten Kirche. Wir feierten unser eigenes Ritual und weihten das Hochzeitszimmer. Darunter, im Speisesaal, wurden scheppernd die Teller aufgetragen für das Abendessen der Pensionäre. Waren die Kellnerinnen besonders laut, um uns in der Illusion zu wiegen, sie hörten uns nicht? Und oben unter der Zimmerdecke – war das ein Sprinklerventil oder eine winzige Kamera?
Einen Retreat-Teilnehmer, einen geschiedenen asketischen Mann, der ebenso gut im Kloster hätte hausen können, trafen wir kurz vor der Abreise am bröckeligen Hohen zollern’schen Bahnhofsgebäude. Wir fühlten uns rauschhaft durchblutet, zum ersten Mal seit vierzehn Tagen. Doch es war bereits dämmerig, und im gelblichen Licht der Bahnsteiglampen müssen wir fahl ausgesehen haben. Der Asket musterte uns mit aufrichtigem Bedauern, als wir ihn grüßten. Dann stellte er die Diagnose: »Ihr habt Energie verschwendet.« Eine schlagfertige Antwort fiel uns nicht ein, der Energiepegel war wohl tatsächlich abgesunken. Es war nur erleichternd, dass der Mann die Bahnfahrt in schweigender Versenkung zuzubringen gedachte, um »die Stille in den Alltag zu tragen«.
Mir hätte das ebenfalls gutgetan. Nach einigen Wochen in der Stadt kehrten die Flashbacks zurück. Lena war hilflose Zeugin. Eines Nachts floh ich panisch ins Treppenhaus, weil in der Wohnung Echsen aus den Schränkenkrochen und Würmer über die Bettdecke wimmelten. Als dann auch bei Tag immer aufs Neue jäh und schockierend die Alltagsdinge ihre Höllenherkunft offenbarten, unterstützte Lena mich in dem Entschluss, zurückzukehren und für ein halbes Jahr beim Zen-Pater Zuflucht zu suchen. Sie konnte sich darauf verlassen, dass unter der Fuchtel dieses erfahrenen Meisters mein zölibatäres Leben keinen Schaden nehmen würde. Dass ich mich in gleicher
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