Unglücklich sein (German Edition)
dieser Tod treibt eine nicht enden wollende Unruhe der Lebenden hervor: Lag es an mir? Was habe ich falsch gemacht? Habe ich etwas übersehen? Was hätte ich tun können?
Das könnten Argumente dafür sein, die gegenwärtige Situation doch lieber durchzustehen. »Gib nicht auf«, heißt es in einem Song der Gruppe Blumfeld (»Neuer Morgen«, Album Jenseits von Jedem , 2003), in dem so mancher zur rechten Zeitdie besten Worte und perfekten Töne für sich und seine Situation gefunden hat. Als Alternative bietet sich ein Leben an, das anders glücklich ist, ein Leben mit dem Unglücklichsein, das die Verzweiflung nicht ausschließt, durch die das Leben immer wieder hindurch muss, aber die verzweifelte Verzweiflung verhindert, die auf Dauer jeden Halt im Leben unterminiert.
8.
Anleitung zum Leben mit dem Unglücklichsein
Was bleibt, wenn alles sinnlos erscheint? Es dabei zu belassen und darüber zu verzweifeln – oder sich mit dieser Möglichkeit des Lebens anzufreunden, um dem Leben trotz aller Sinnlosigkeit wieder ausreichend Sinn abzugewinnen. Alle Facetten des Menschseins können zu Instrumenten auf der Suche nach Sinn werden. Glücksmomente können damit verbunden sein, und doch reicht der Sinn noch weit darüber hinaus.
Sinn setzt mit der Erfahrung von Sinnlichkeit ein, vermittelt über die fünf Sinne des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens, einen sechsten Bewegungssinn und einen siebten, inneren Sinn, das »Bauchgefühl«. Was den sieben Sinnen zu verdanken ist, ist etwas, das nur für diese Minute, diese Stunde, diesen Tag »Sinn macht«. Die Augen sind überwältigt von einem Anblick , der schön oder schön traurig erscheint, verkörpert von Landschaften auf Bildern und in Wirklichkeit, auch von der Landschaft eines Körpers und insbesondere eines Gesichts. Ein wohlriechender Duft betört nicht nur die Nase, sondern auch die Traurigkeit, die ein morbider Geruch wiederum verstärken kann. Ein wenig Sinn in allem Unglücklichsein hält jederzeit ein wohlschmeckendes Essen bereit. Und beruhigend wirkt die Erfahrung der Berührung , die dennoch viel zu wenig genutzt und gewährt wird.
Unendlich gut tut es einem Melancholiker, Musik zu hören und sie selbst zu machen, denn in ihr ist ein vollkommenes Verständnis für die Melancholie zu finden. Ihre Schwingungen erlauben, Körper, Seele und Geist in einen einzigen Klangraum zu verwandeln, um die melancholischen Gefühle und Gedanken zu zelebrieren. Ein Gutteil der Musik quer durch die Zeiten, von den antiken Gesängen der Sappho bis zu modernen Popsongs, besteht aus Stücken eines kunstvoll komponierten Traurigseins. Die barocke Lebensfreude der Feuerwerksmusik von Georg Friedrich Händel ist nicht denkbar ohne die verhaltene Lebenstrauer des Larghetto aus seiner Oper Xerxes . Die romantische Musikbetont die dunklen Seiten der Existenz mehr noch als die hellen, denen erst spätere Zeiten das alleinige Attribut »romantisch« zugestehen wollten: Unendlich traurig, unendlich schön lässt Johannes Brahms die Stimmen im Lied In stiller Nacht »von herbem Leid und Traurigkeit« singen, worin »das Herz zerflossen« sei.
Eigene Energien sind wieder zu spüren bei jeder Art von Sport und Bewegung . Regelmäßige Spaziergänge sind eine wirksame Rettung aus so mancher Verzweiflung, denn sie ermöglichen, den melancholischen Gedanken nachzuhängen und zugleich ein ganzes Füllhorn von Welt sinnlich zu erfahren. In der rhythmischen Bewegung des Tanzens kann die melancholische Seele Ausdruck finden, und vielleicht ist ihr die Gelegenheit willkommen, einer anderen Seele dabei nahe zu sein. Ein Kribbeln im Bauch ist zu spüren bei jeder Art von Erotik , die mit sinnlichen Reizen die Melancholie auffängt und auf ihre Weise die Polarität des Lebens wiederherstellt: Indem sie die negative mit einer positiven Erfahrung ausbalanciert. Dass gerade dann, wenn das Traurigsein am größten ist, das erotischeEmpfinden am stärksten wird, fiel schon dem antiken Autor des Problems XXX,1 auf: Die meisten Melancholiker seien »wollüstig«. Wenn das Leben am seidenen Faden hängt, kann eine Ahnung von Erotik das stärkste Argument dafür sein, ihn nicht reißen zu lassen. Das erträumte und reale Einssein heilt das Leiden am Entzweitsein, wenigstens zeitweilig, mag die Melancholie danach auch noch so schmerzlich sein.
Über den Körper hinaus ist ein Mensch tief innerlich berührt vom seelischen Sinn , den alle Arten von Beziehung stiften können, nicht nur momentan,
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