Unglücklich sein (German Edition)
sondern über lange Zeiten hinweg und vielleicht das ganze Leben hindurch. Die Seele lässt sich verstehen als der Raum, in dem die Energien wohnen, die einen Menschen leben lassen. In Bewegungen von Gefühlen sind sie erfahrbar, in Beziehungen kommen sie am stärksten zum Ausdruck. Aber es handelt sich um gegensätzliche Gefühle in ein und demselben Selbst, grundlegend ist daher, mit sich selbst befreundet sein zu können, um der inneren Zerrissenheit gegenzusteuern, die auch die Beziehungen zu Anderen unterlaufen würde. Ein starkerAnkerpunkt des Lebens mit sich und dem Unglücklichsein ist die eigene Arbeit , die sinnvoll erscheint, wenn sie Zusammenhänge herstellt und gerne getan wird, nicht unbedingt identisch mit Erwerbsarbeit. Und sinnvoll sind die Gewohnheiten , an denen das Herz hängt und in deren Netz das Traurigsein wohlbehalten gelebt werden kann.
Sehr viel kommt sodann auf die Bindungen an, in denen gegensätzliche Gefühle ihren Platz haben: Gefährten braucht der melancholische Mensch, mit denen er die Spannweite seiner Gefühle teilen kann und wenigstens spürt, dass auch in tiefster Einsamkeit jemand für ihn da ist. Liebende , deren Beziehung bei zeitweiligen Unwohlgefühlen und Auseinandersetzungen nicht in Frage steht, stellen sich die Frage nach dem Sinn nicht mehr, denn sie sind im Besitz einer Antwort. Freunde , die sich einander zugehörig fühlen, schöpfen aus ihrer Beziehung den Sinn, der ihr Leben schöner und Widrigkeiten erträglicher macht. Anhaltenden Sinn, der auch in der Traurigkeit hält, vermittelt das Teilhabenkönnen am heranwachsenden Leben, das Kinder in aller Unbefangenheit repräsentieren.Jede Geselligkeit spendet Sinn aufgrund der Zusammenhänge mit Anderen, die dabei rituell gepflegt werden, und jede Zusammenarbeit an einem Arbeitsplatz erscheint sinnvoller als ein sinnloses Aneinandervorbeiarbeiten.
Manche finden in der Heimat den Raum, der sie mit Sinn und Vertrautheit umfängt, wenn sie unglücklich sind. Für Andere ist dies eher die Fremde , in der niemand sie kennt, sodass sie kein Gesicht zu wahren haben. Und wenn es kein Mensch ist, zu dem eine Beziehung und Bindung zustande kommt, dann vielleicht ein Tier , dem sehr viel Gefühl entgegengebracht werden kann und das umsorgt werden muss, sodass das Leben auch inmitten des Unglücklichseins wieder an Sinn gewinnt. Seelischen Sinn vermittelt jede Anschauung und Erfahrung von Natur , in der Menschen Kraft schöpfen können, da in ihr offenkundig alles mit allem zusammenhängt. Hilfreich ist die Pflege eines Gartens oder auch nur eines Balkons oder einer Fensterbank, wo etwas wächst, denn das zyklische Werden und Vergehen der Natur repräsentiert eine Form von Zeit, in der ein Melancholiker sich eher beheimatet fühlt als inder rasch vergehenden, linearen Zeit ohne Wiederkehr der modernen Kultur.
Glück ist, in Zeiten des Unglücklichseins Menschen zu kennen, mit denen über alles geredet werden kann. Ein vertrautes Gespräch sorgt wie nebenbei für geistigen Sinn . Reden hilft, Schweigen nicht, es sei denn das Schweigen zwischen Menschen, die sich ohne Worte verstehen. Es muss kein hochgeistiges Gespräch sein, sinnvoll ist auch ein Plaudern. Jedes Gespräch knüpft einen Faden des Zusammenhangs, auch wenn es belanglos ist. Es verkörpert Sinn schon durch sein bloßes Geschehen, am meisten das Gespräch mit nahestehenden Menschen, aber auch mit Bekannten, Unbekannten und professionellen Gesprächspartnern, denn die Aufmerksamkeit Anderer tut so gut.
Von besonderer Bedeutung im Geistigen sind narrative Zusammenhänge . Alles, was sich erzählen lässt, macht Sinn. Es fällt leichter, die Fragmente des eigenen Lebens und die Teile des Selbst, die herumliegen, wieder zusammenzufügen, wenn man einem Anderen etwas von sich erzählen darf. Die verschiedensten Geschehnisse und Informationen fügen sich dabei zu Zusammenhängen, die nur halbwegs plausibel sein müssen, um sinnvoll erscheinen zu können. Daher sind Menschen so angetan davon, Geschichten zu erzählen und sie zu hören: Es bewahrt sie vor der abgründigen Erfahrung der Sinnlosigkeit.
Der geistige Sinn wird außerdem gestärkt vom Interesse an anderen Sichtweisen und Möglichkeiten der Deutung . Gefährlich ist demgegenüber die Fixierung auf unumstößliche Wahrheiten, die auch Sackgassen sein können. Sehr viel hängt davon ab, in schwierigen Lebenssituationen aus einem rechtzeitig erworbenen Potenzial an Deutungsmöglichkeiten schöpfen zu können, um
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