Unglücklich sein (German Edition)
sich nicht in vermeintlich endgültigen Wahrheiten einzuschließen, sondern Dinge noch anders zu sehen, andere Wege zu gehen und so aus Engpässen des Lebens und Denkens wieder herauszufinden. Kunst und Literatur, Bildung und Weiterbildung offerieren unerschöpfliches Material für Deutungen und Interpretationen, die unabschließbar sind und einen Menschen offen halten für weitere, andere, nie gesehene, unerhörte Zusammenhänge. Die Vielzahlmöglicher Deutungen legt sogar den Schluss nahe, dass im Leben eigentlich alles voller Zusammenhänge, voller Sinn ist.
Eine Frage der Deutung ist auch, wozu etwas gut ist, auf welches Ziel es zusteuert, welchem Zweck es dient. Zu allen Zeiten bezogen Menschen daraus sehr viel Sinn. Vielleicht ist es allmählich möglich, sich wieder ein Ziel zu setzen, trotz aller Relativität, die allen Zielen eigen ist. Es kann sich um ein nahes oder fernes Ziel handeln. Es kann darum gehen, einen kleinen Wunsch zu hegen und auf seine Erfüllung hinzuarbeiten oder einer großen Sehnsucht nachzugehen und die Erfahrung zu machen, dass die Intensität der Erfüllung in einem direkten Verhältnis zu Länge und Schwierigkeitsgrad der Wegstrecke dorthin steht. Möglich ist ebenso, bewusst auf Ziele und Zwecke zu verzichten, um das Leben zu nehmen, wie es kommt, und den Weg zu gehen, der sich ergibt.
Die gedankliche Beschäftigung mit dem Leben kann zu der Auffassung führen, dass zu den Zusammenhängen, die ihm Sinn verleihen, auch die Polarität gehört, dass Gesundheit ohne Krankheit,Lust ohne Schmerz, Leben ohne Tod nicht vorstellbar ist und dass im Leben sogar scheinbar Widersinniges zusammengeht, etwa die Gewissheit eines Glaubens mit dem Wissen um seine Fragwürdigkeit. Dass es nicht nur ein gewolltes Tun oder Lassen gibt, das von jemandem zu verantworten ist, sondern auch ein ungewolltes und verhängnisvolles Geschehen, für das niemand irgendwelche Verantwortung trägt. Dass letztlich unerklärliche, unauflösbare Zusammenhänge möglich sind, mit deren Rätselhaftigkeit sich das menschliche Dasein abzufinden hat.
9.
Melancholie als transzendente Fähigkeit
Gibt es einen Sinn über das Leben hinaus? Die Melancholiker sind in dieser Frage uneins, manchmal auch der Einzelne mit sich selbst. Für die Einen ist ein Sinn über das Leben hinaus undenkbar, umso mehr setzen sie im Leben selbst auf den Sinn der Sinnlichkeit, der ihnen völlig genügt. Für die Anderen steht ein transzendenter Sinn außer Frage, sinnlos erscheint ihnen nur das Leben selbst, die antike Weisheit des Chores in Ödipus auf Kolonos von Sophokles spricht ihnen aus der Seele: Nie geboren zu sein, sei das Beste, das Zweitbeste jedoch, wenn geboren, so schnell wie möglich dorthin zurückzukehren, woher man kam.
Die äußerliche, begrenzte Welt bleibt auch den Melancholikern, die sich auf den sinnlichen Genuss des Lebens einlassen, fremd. Sie spüren in sich eine andere, erträumte oder wirkliche vorzeitliche Welt, die sie als innerliche, unendliche in sich tragen. Den Grund ihrer Seele bildet diese Welt vollerEnergie und Intensität, und auch für diese Energie gilt womöglich, wie für alle bekannten Energieformen, dass sie nicht vernichtet werden kann, also unsterblich ist. In der Seele, diesem tiefen Selbst, das anders als das oberflächliche Selbst keinen Namen trägt, fühlt der Melancholiker das Wesentliche des Menschseins. Die Seele ist der Stoff, feinstofflich oder gänzlich immateriell, aus dem im endlichen, sterblichen Leben selbst die Brücke zur Unendlichkeit und Unsterblichkeit gebaut ist.
Freilich ist im endlichen Leben die unendliche Intensität meist nur als abwesende schmerzlich anwesend, der Melancholiker leidet daran. Er selbst verfügt nicht über die unerschöpflichen Energien, die ein Leben in der Unendlichkeit des Seins bereitstellen kann, er vermag sie lediglich durch die dünne Haut seiner körperlichen Endlichkeit hindurch zu spüren; das macht die Melancholie zur transzendenten Fähigkeit. In Gefühlen und Gedanken ist sie ein Überschreiten , transzendent im Wortsinne des lateinischen transcendere . Die Schwelle, die sie überschreitet, ist die Grenze der Endlichkeit, über die hinaus etwas Anderes, Unbestimmtes sichauftut. Der Melancholiker fühlt und denkt, dass das wahre Leben der Intensität, das Sein , nicht im gegenwärtigen Leben, im Dasein, zu finden ist, so attraktiv das Leben im Hier und Jetzt auch sein mag. Er trauert über die metaphysische Lücke zwischen dieser und jener Welt
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