Unglücklich sein (German Edition)
und darüber, dass er in dieser Welt keine dauerhafte Heimat findet, vielmehr Heimweh nach der anderen Welt empfindet, in die es ihn zurückzieht. Melancholie ist die Trauer über die Entfremdung des Menschen von seinem zeitlosen Ursprung, über das unmögliche, allenfalls zeitweilige Einssein mit Anderen in der Welt, das die Sehnsucht für einen Moment stillen kann, da in ihm die ursprüngliche Intensität wieder auflebt.
Auf diese und jede andere Weise sind Melancholiker an Religion interessiert, auch wenn sie sich in keiner Weise als religiös verstehen. Viele nennen es lieber Spiritualität , aber auch in ihr geht es darum, sich offen für das Andere zu halten, in dem ein unbekanntes Schicksal, ein geheimnisvoller Sinn zu wohnen scheint. Es trägt dann nicht den Namen Gott, sondern Geist ( spiritus im Lateinischen) undist doch ebenfalls dazu da, das Unglücklichsein und alles Unglück aufzufangen, das unaushaltbar wird, wenn es keinen Platz in einem überwölbenden Ganzen finden kann, in dem alles mit allem zusammenhängt.
Der Zugang zu diesem Sinn über das Leben hinaus kann, wenn es an Gewissheit fehlt, eine Frage der Annahme sein. Die Annahme lässt die Tür offen für alle, die die Transzendenz nicht mit einem »Glauben«, woran auch immer, in Verbindung bringen können. So müssen sie die Möglichkeit einer ganz anderen Dimension nicht abweisen, in der Antworten auf die ewigen Fragen nach dem Woher und Wohin des Menschen und der gesamten Welt, nach dem eigentlichen Sein, nach der Schicksalhaftigkeit und Vorherbestimmtheit des Daseins vermutet werden, die in jener Dimension selbst womöglich gar keine Rolle spielen.
Unabhängig von der Wirklichkeit kann die Grenzüberschreitung zumindest als Möglichkeit gedacht werden, und schon in diesem Fall wird es möglich, die engen Grenzen des Selbst und dieser Welt hinter sich zu lassen. Sich eine solche Vorstellung zumachen, ist ein Kunstgriff der Lebenskunst, auf die auch Melancholiker sich verstehen. Die Fülle des Lebens zwischen der wirklichen Endlichkeit und möglichen Unendlichkeit tröstet über eine empfundene Armut der Gegenwart hinweg, in der sich der Reichtum des Lebens, die mögliche Erfüllung der Existenz, in den Grenzen der jeweiligen Wirklichkeit hält.
Die subjektiv wahrgenommene Leere des Daseins mit einer solchen Sinnannahme zu füllen, ist eine Art von Mystik , die keiner letzten Gewissheit bedarf und doch eine Wahrheit für möglich hält. Ein Problem der modernen Zeit lag darin, den Sinn einer unbestimmten Dimension der Transzendenz lange mit einem bestimmten Jenseits identifiziert und abgetan zu haben. Zugleich wurden die Kräfte, die aus der Beziehung zu einer solchen Dimension in reichem Maße zuwachsen können, schmerzlich entbehrt. War es die transzendente Ignoranz , die den Druck anschwellen ließ, alle Träume in diesem einen, endlichen Leben verwirklichen zu müssen, da kein Darüberhinaus mehr zur Verfügung stand? War sie es, die das Leiden daran unerträglichwerden ließ, dass der Versuch zur Verwirklichung von Möglichkeiten ohne Rest im endlichen Leben selbst ja doch immer zum Scheitern verurteilt ist? Hat dies Menschen vermehrt in die Melancholie getrieben?
Aber Melancholie ist nicht nur das Unglücklichsein über die Unerfüllbarkeit der Träume von unendlicher Intensität, sondern auch die Erlösung von der Hoffnung auf Erfüllung in diesem endlichen Leben. Das Wissen um die Unerfüllbarkeit befreit von der leidvollen Anstrengung, alles in dieses angeblich einzige Leben »packen« zu müssen. Die kommende Zeit der Melancholie kann daher auch zu einer Zeit neuer Freiheit werden.
10.
Die kommende Zeit der Melancholie
Auf Zeiten der Euphorie folgen andere Zeiten, die Euphorie über das Glück bildet da keine Ausnahme. Das könnte ein Grund dafür sein, dass immer mehr Menschen von einer Melancholie erfasst werden, die sie nie zuvor an sich kannten. Je mehr der Sinn des Lebens in andauernder Lebensfreude gesucht wird, desto größer fällt die Enttäuschung aus. Wer immer nur gute Laune versprühen will, hat zu gegebener Zeit selbst die Nase voll davon. Jedes Feuer ist irgendwann mal abgebrannt, dann bleibt nur noch, in der Asche zu stochern und nach neuem brennbaren Material Ausschau zu halten.
Euphorisch war der Traum vom größten Glück der größten Zahl, der seit den Anfängen der Moderne geträumt wurde. Alte Vorstellungen vom ewigen Heil gingen bruchlos in moderne Vorstellungen vom Glück über, auch Heinrich Heine
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