Ungnade: Thriller (German Edition)
warteten, dass die Hauptattraktion des Abends endlich die Bühne betrat. Sie war auf das Gefühl gespannt, wenn sie Roddy nach all den Jahren wiedersehen würde.
Die Lichttechniker nahmen ihre hoch über der Bühne schwebenden Arbeitsplätze ein. Als Rebecca einen Blick über ihre Schulter warf, entdeckte sie ein Stück hinter sich den Mann in dem olivgrünen T-Shirt. Sein Blick war auf die Bühne gerichtet. Er schien ohne Begleitung zu sein, jedenfalls stand er nicht inmitten der jungen Mädchen, mit denen sie ihn vorhin hatte hereinkommen sehen. Vielleicht war er den Kindern peinlich, überlegte sie. Vielleicht durfte er seine Tochter und deren Freundinnen zwar zum Konzert und später wieder nach Hause fahren, aber mit ihm hier zusammen gesehen werden wollten sie dann doch nicht.
Dann erloschen die Lichter. Ein lautes Raunen ging durch den Saal, als die versammelte Menschenmenge sich gleichzeitig nach vorn drängte. Hannah warf ihrer Freundin einen Blick zu und lachte, als sich von allen Seiten Körper gegen sie drückten.
Ein rhythmischer Trommelschlag setzte ein, und die Menge rückte noch einen Schritt näher an die Bühne heran. Rebecca war überrascht über die Lautstärke. War es bei Rockkonzerten früher auch schon so laut zugegangen, oder kam sie tatsächlich langsam in die Jahre? Bis jetzt war sie sich mit Anfang dreißig noch alles andere als alt vorgekommen.
Hinter ihr ließ sich der Mann von der Bewegung der Menge mittragen und näherte sich Rebecca Stück für Stück.
Der Leadgitarrist setzte zu dem von einem pulsierenden Bassriff untermalten Intro eines der bekanntesten Stücke der Band an, und die Bühne wurde in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Roddy Hale stand mit gesenktem Kopf allein am vorderen Rand der Bühne.
Die Menschen um sie herum begannen im Takt des Basses auf und ab zu hüpfen. Hannah legte ihren Arm um Rebeccas Schulter, dann taten sie es ihnen gleich.
Rebecca fühlte sich, als hätte sie das Leben wieder.
Währenddessen arbeitete sich der Mann in dem grünen T-Shirt noch weiter vor, bis er unmittelbar hinter ihr stand. Dann griff er nach unten in sein Sockenhalfter und zog das Messer aus der Scheide.
4
Carl Hudson verstaute sämtliche Arbeitsmaterialien stets entweder im Kofferraum seines Wagens oder trug sie am eigenen Leib.
Dazu gehörten auch zwei Garnituren Bekleidung, um sich den meisten Situationen auch optisch entsprechend zu stellen. Sie bestanden aus einer ordentlichen Leinenhose und einem blauen Baumwollhemd sowie einem T-Shirt und einem Paar abgetragener Jeans. Zudem war Hudson nie ohne einen ausreichenden Vorrat an Mineralwasser und starken Protein-Snacks anzutreffen, nie ohne sein Keramikmesser, mit dem er unbeanstandet jeden Metalldetektor passieren konnte, und auch nie ohne seine zwei geladenen halb automatischen 19-mm-Glocks– nebst der entsprechenden Reservemunition– sowie einem Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr von Heckler & Koch und eine kugelsichere Weste.
Hudson neigte gemeinhin nicht zu Anfällen von Selbstzweifel. Er verdiente seinen Lebensunterhalt damit, Leute umzulegen– sinnlos, daran etwas beschönigen zu wollen–, und obwohl er sich durchaus für einen der Besten in seiner Branche hielt, machte ihn das, was sein Auftraggeber nun von ihm verlangte, doch nervös. Es gefiel ihm einfach nicht, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Summe, die man ihm dafür bezahlte, ihm nicht den Blick dafür verstellte, wie schwierig sich der Job unter Umständen gestalten könnte.
Heute Abend arbeitete er solo; der Auftrag erforderte einen Alleingang. Bei diesem Job war Unauffälligkeit Trumpf, schließlich machte man keine große Show daraus, wenn man einer Polizistin das Lebenslicht auspustete. Stattdessen ging man schnell und möglichst fies vor, um die Angelegenheit so aussehen zu lassen, als wäre sie die Zufallstat eines verrückten Messerstechers.
Ein paar Wochen nach jenem sonderbaren Zusammentreffen in dem Coffeeshop hatte Hudson von seinem Auftraggeber die Privatadresse besagter Polizistin erhalten. Er war nicht allzu erbaut davon gewesen, dass sein Auftraggeber sein Gesicht gesehen hatte, normalerweise sah man Hudson nur von Angesicht zu Angesicht, wenn man zu seinem Team gehörte, ein enger Freund war– wovon es, seinen beruflichen Umständen entsprechend, nur sehr wenige gab– oder aber in wenigen Augenblicken durch seine Hand sterben würde. Er konnte sehr gut darauf verzichten, dass jetzt irgendwo da draußen jemand
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