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Unguad

Unguad

Titel: Unguad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Werner
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Augen weit
aufgerissen. Was war nur mit dieser Station los?
    Tibor rappelte sich auf. Sein ganzer Körper fühlte sich zerschunden
an. Der rechte Arm war taub. Wohl von dem Sturz an den Schrank. Er sah sich
nach seinem Stock um. Dieser lag halb unter dem Regal an der gegenüberliegenden
Wand. Dort musste er liegen bleiben. Der alte Mann war zu angeschlagen, um sich
zu bücken.
    Inzwischen hatte sich Kerstin näher an die Abstellkammer
herangetraut. Sie telefonierte immer noch. Wahrscheinlich fühlte sie sich
sicherer, wenn sie eine Zuhörerin in der Leitung hatte. Für alle Fälle.
    »Hallo?« Sie streckte eine Hand vorsichtig in den Raum und tastete
nach dem Schalter. Das plötzliche, helle Licht blendete Tibor unangenehm in den
Augen. Reflexhaft kniff er sie zusammen.
    »Ja, Herr von Markovics! Was machen Sie denn hier?« Kerstin eilte
bestürzt auf ihn zu und griff ihm helfend unter den Arm. Er jammerte auf. »Was
machen Sie so spät noch in der Abstellkammer? Haben Sie etwas gesucht?«
    Tibor zeigte mit zittrigen Fingern auf den Gehstock am Boden. Die
Pflegerin bückte sich und reichte ihn ihrem Schützling. Routiniert sah sie sich
im Raum um. Auf dem Regal war bei den Wolldecken eine ungewohnte Unordnung.
Offensichtlich hatte dort jemand herumgekramt. »Wollten Sie sich eine Decke
holen? Sie hätten doch nach mir klingeln können! Ich hätte Ihnen sofort eine
gebracht.« Kerstin schüttelte den Kopf.
    Sie stützte Tibor, der sehr wackelig auf den Beinen war. »Na, nun
gehen wir beide mal ins Bett, Herr von Markovics. Eine Decke nehmen wir Ihnen
mit, so.« Sie klemmte sich eine Wolldecke unter den Arm. Da Tibor seinen Stock
nicht selbst halten konnte, steckte sie ihn auch zu der Decke. So geleitete sie
ihn hinaus und vorsichtig den Gang entlang zu seinem Schlafzimmer.
    Tibor war mit einem Schlag von Müdigkeit überwältigt. Ihn
interessierte nicht, wer der Junge gewesen war, der sich in der Kammer
versteckt hatte, noch, wohin er gelaufen war. Er wollte nur ins Bett.
    Mit geübten Handgriffen hatte die Pflegerin ihn bald zurechtgemacht
und ging lautlos aus dem Zimmer. Magdalena saß noch vor dem Fernseher. Sie
hatte nichts mitbekommen. Völlig ermattet lag er auf seiner Liegestatt. Warum
tat er sich das an? Er war alt. Uralt. Ihm könnte alles egal sein. Er schloss
seine Augen. Endlich Ruhe. Ruhe.
    Zwanzig Uhr siebenundvierzig
    Als seine Kumpel verschwunden waren, setzte sich Linus auf einen
der leeren Stühle, legte seine Arme überkreuzt auf die Mauer, stützte das Kinn
darauf und schaute den Mädchen zu. Genauer gesagt, der Anna. Wer hätte gedacht,
dass die einmal so hübsch werden würde? Er nicht. Dunkel konnte er sich noch an
sie erinnern, als sie zusammen in derselben Kindergartengruppe gewesen waren.
Ein dürres kleines Gespenst. Stimmt! »Gespenst« hatte er sie immer genannt.
Weil sie so blass war und riesengroße Augen hatte. Und an ihrem Zopf hatte er
sie gezogen. Den hatte sie damals auch schon. Nur war er nicht so lang gewesen.
Unwillkürlich musste er grinsen. Er fühlte sich sauwohl, wie er hier allein auf
der Terrasse saß und sozusagen den Ausblick genoss. Langsam wurde es Nacht. Die
Mädels waren mit ihrem Tai-Chi fertig und trödelten ins Haus.
    Von einem plötzlichen Einfall inspiriert, sprang Linus auf und die
Treppen hinunter. Am Fuß der Treppe bremste er abrupt ab und lehnte sich
möglichst lässig an das Geländer. Bald kamen die Mädchen aus dem großen Zimmer,
in dem sie sich umgezogen hatten, und machten sich auf den Heimweg. Die
Sozialarbeiterin schloss heute den Jugendtreff um einundzwanzig Uhr. Manche von
ihnen lächelten Linus an und grüßten ihn. Er stand in ihrer Gunst, da er gut
aussah und sich nicht so prolo benahm wie andere Jungs. Er lächelte zurück,
blickte aber immer wieder zur Tür. Wo blieb sie denn?
    Anna erschien als Letzte. Sie trug eine große Tasche, in der sie
ihre Tai-Chi-Klamotten verstaut hatte.
    »Hey, Anna.« Linus’ Stimme kratzte ein wenig.
    Als Anna ihm in die Augen schaute, wurde sie rot. »Hey, Linus.« Sie
senkte ihren Blick und wollte an ihm vorbeigehen.
    Elastisch drückte sich Linus vom Geländer ab und blieb an ihrer
Seite. »Was machst denn heute noch?«
    Anna schob die Träger ihrer Tasche auf der Schulter nach oben und
hielt sie fest. »Weiß nicht.« Dass sie eigentlich gleich nach Hause musste,
verschwieg sie. Das wäre zu peinlich gewesen.
    »Gehen wir auf den Kirchplatz? Ich lad dich auf ein Eis ein.«
    »Okay.«
    Linus holte sein Rad;

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