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Unheil

Unheil

Titel: Unheil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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würde.
    Der dritte Anruf schließlich stammte vom Tag danach – es war die
vorletzte Nachricht, die das Gerät überhaupt noch aufgezeichnet hatte – und war
wieder vollkommen anders und völlig untypisch für Sylvia in knappem und sehr
sachlichem Ton gehalten: Sie entschuldigte sich für ihren letzten Anruf und
versicherte ihr, wie leid ihr der Ausrutscher von gestern tat. Es klang
ehrlich, aber wenn man genau hinhörte, dann wurde rasch klar, dass sie auch bei
diesem Anruf nicht vollkommen nüchtern gewesen war … was im Prinzip ja für jeden
Tag galt, seit Lea gestorben war.
    Conny nahm ihr den Ausrutscher nicht übel.
Ihre Worte hatten sie nicht verletzt, nicht einmal in dem unmittelbaren Moment,
in dem sie sie gehört hatte. Aber sie verspürte trotzdem einen dünnen, tief
gehenden Stich, als sie die Nachricht abhörte und begriff, dass Sylvia verloren
war.
    Sie hatte schon immer zu viel getrunken, schon als Teenager und
später als junge Frau, und so lange sich Conny zurückerinnern konnte, war da
stets die latente Sorge in ihr gewesen, dass sie eines Tages den einen
winzigen, entscheidenden Schritt zu weit gehen und endgültig abrutschen könnte.
Nicht dass sie aggressiv wurde, wenn sie trank, oder gar ordinär oder auch nur
ihre Pflichten als erwachsene Frau und Mutter vernachlässigte, aber sie trank , und sie trank zu viel und zu oft, und vielleicht war
das auch der wirkliche Grund gewesen, aus dem sie sich zwar nie wirklich aus
den Augen verloren hatten, aber auch niemals wirklich beste Freundinnen geworden waren. Sylvia war einer der nettesten Menschen, die Conny
kannte. Sie konnte unglaublich komisch sein, wenn sie wollte, und hatte ein
sehr einnehmendes Wesen, kam allerdings der Grenze manchmal zu nahe und näher,
je älter sie wurde. Sie hatte es niemals von sich aus gesagt, und Conny hatte
niemals danach gefragt, doch sie war ziemlich sicher, dass auch Lea das
Ergebnis eines solchen Ausflugs an den Abgrund war – was nichts daran änderte,
dass sie ihre Tochter abgöttisch geliebt hatte.
    Vielleicht mehr, als gut war, denn mit Lea war auch ein großer Teil
von ihr gestorben. Möglicherweise war das bis zu einem gewissen Punkt normal.
Conny maßte sich kein Urteil an, was Mutterliebe und elterliche Instinkte
anging; sie selbst hatte keine Kinder (nicht nur mangels Gelegenheit) und auch
niemals welche gewollt. Sie hatte sich schon vor langer Zeit dagegen
entschieden, Kinder zu bekommen, nicht nur, weil sie die Verantwortung und all
die Opfer scheute, die es ihr abverlangt hätte, sich um ein neues Leben zu
kümmern und es auf den richtigen Weg zu bringen; und das bis zu ihrem eigenen
allerletzten Tag. Vielleicht fehlte ihr schlichtweg ein bestimmtes Gen,
vielleicht lag es auch an ihrem Beruf. Schon als junge Streifenpolizistin hatte
sie zu oft erleben müssen, welchen Schmerz es bedeutete, wenn einem ein solches
Leben entrissen wurde, ganz gleich, ob durch einen Unfall, eine Krankheit oder
etwas so grausames und willkürliches wie einen Mord. Der Schmerz war immer
grausam, und die Wunden, die er riss, tief, und manchmal brauchten sie unendlich
lange, um zu heilen.
    Aber sie heilten, wenigstens in den meisten Fällen. Der Schmerz, den
Sylvia litt, würde niemals enden.
    Ein einziger Blick in ihre Augen hatte Conny klargemacht, dass sie
zu den wenigen unglücklichen Ausnahmen gehörte, deren Wunden niemals heilten;
ein seelischer Bluter, der an der gleichen Verletzung zugrunde gehen würde, die
der Vampir ihrer Tochter zugefügt hatte. Aisler hatte mit seinem ersten Schnitt
zwei Leben ausgelöscht.
    Conny löschte auch diese Aufnahmen – es war zwar unwahrscheinlich,
doch immerhin möglich, dass Eichholz das Band abhörte, und diese Anrufe gingen ihn nun wirklich nichts an – und erinnerte sich erst dann
schmerzhaft daran, was Vlad gesagt hatte: nämlich, dass ihre Kollegen den AB längst abgehört hatten.
    Falls er die Wahrheit gesagt hatte, hieß das.
    Und falls es ihn überhaupt gab.
    Vielleicht zum allerersten Mal versuchte sie das Problem ganz
logisch zu analysieren. Natürlich gab es Vlad. Er war
so wenig ein Phantom, wie es Aisler gewesen war … die Frage war nur, welchen
Vlad: den, der ihr die E -Mails geschickt und sich
mit ihr im Trash getroffen hatte, oder jenen anderen,
unheimlicheren Vlad, der scheinbar tatsächlich wie ein Gespenst nach Belieben
auftauchen und

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