Unheil
die
aufgeweichten Mullbinden ab und biss in Erwartung eines heftigen Schmerzes die
Zähne zusammen, als sie die letzte Lage erreichte.
Er kam nicht.
Sie wurde nicht einmal mit einem unangenehmen Anblick belohnt, als sie den Rest der Mullbinde löste und fallen lieÃ. Anstelle der
drei tiefen, fast bis auf den Knochen reichenden Stiche, die Aisler ihr
zugefügt hatte (jedenfalls hatte es sich so angefühlt), sah sie gerade noch
drei dünne, halbmondförmige rote Linien, wie die verblassenden Abdrücke harter
Fingernägel.
Zuerst schockierte sie es regelrecht, doch der Augenblick verging,
und das Gefühl machte einem jähen, umso stärkeren Ãrger Platz. Gut, die Stiche
hatten höllisch wehgetan , aber sie waren ganz
offensichtlich nicht so tief gewesen, wie es sich angefühlt hatte, und nicht
einmal annähernd so schlimm, wie die Oberschwester
behauptet hatte. Wahrscheinlich hatte sie das nur gesagt, dachte sie ärgerlich,
damit sie gar nicht erst auf die Idee kam, vor der Zeit aufzustehen oder gar herumzulaufen.
Sie lieà den aufgeweichten Verband mit spitzen Fingern in den
Mülleimer unter dem Waschbecken fallen, schlang sich den Bademantel nur lose um
die Schultern (das war einer der wirklich wenigen Vorteile, wenn man allein
lebte: Man musste auf niemanden Rücksicht nehmen), schon, weil es viel zu
schwierig gewesen wäre, die sperrige Schiene durch den Ãrmel zu bugsieren, und
ging noch immer triefnass ins Wohnzimmer zurück.
Während sie geduscht hatte, war es vollkommen dunkel geworden. Das
rote Licht des Anrufbeantworters schien ihr wie ein kleines, hypernervöses Auge
zuzublinzeln, ein Anblick, der sie auf unangenehme Weise an ihr Gespräch mit
Eichholz heute Morgen erinnerteâ und an das winzige Aufnahmegerät, das er in
der Hand gehalten hatte.
Einen Moment lang erwog sie ernsthaft den Gedanken, die Anrufe
einfach zu löschen, ohne sie zuvor abzuhören. Sie hatte ohnehin eine ziemlich
konkrete Vorstellung davon, was sie hören würde: Wahrscheinlich eine ganze
Armee neugieriger Journalisten, die irgendwie ihre Privatnummer herausgefunden
hatten und glaubten, ausgerechnet sie wären die Einzigen, denen es gelang, ihr
ein Exklusivinterview abzuschwatzen, und wahrscheinlich mindestens zwei oder
drei Anrufe von Eichholz, der Gift und Galle spuckte. Und vielleicht auch
Trausch, der sich nach ihrem Befinden erkundigte ⦠auch wenn das vermutlich
reines Wunschdenken war, wie sie sich eingestand. Er hatte es sich nicht
anmerken lassen, aber sie wusste natürlich, dass er ernsthaft verärgert gewesen
war, als er ging, und sie kannte ihn mittlerweile auch gut genug, um zu wissen,
dass dieser Ãrger mindestens bis morgen früh andauern würde.
So oder so befand sich auf dem AB mit
Sicherheit nichts, was nicht Zeit bis morgen hatte, oder besser noch bis
nächste Woche. Und nach dem, was Vlad gesagt hatte, am besten bis zum Sankt
Nimmerleinstag. Angst, eine wichtige private Mitteilung zu verpassen, musste
sie jedenfalls nicht haben. Den letzten privaten Anruf â wenn man es denn so
nennen wollte â hatte sie vor sieben Jahren erhalten, als ihr damaliger Freund
ihr über einen gemeinsamen Bekannten mitteilen lieÃ, dass sie sich nicht mehr
wiedersehen würden.
Sie schüttelte den Gedanken ab, bevor er eine Tür in ihren
Erinnerungen öffnete, die sie schon vor langer Zeit sorgsam verriegelt hatte,
gewährte den Nachrichten auf dem AB noch eine kurze
Gnadenfrist elektronischen Lebens und ging in die Küche, ohne Licht
einzuschalten. Eigentlich hasste sie Dunkelheit. Sie hatte sich immer als ein
Geschöpf des Lichts betrachtet, einen Menschen, der erst im hellen Licht der
Sonne wirklich aufblühte und sich nach Einbruch der Nacht am liebsten in ihre
Höhle verkriechen und erst beim nächsten Sonnenaufgang wieder herauskommen
würde. Sie hatte keine Angst vor der Dunkelheit, aber sie mochte sie einfach
nicht, was so weit ging, dass sie die meiste Zeit sogar bei Licht schlief.
Jetzt machte sie ihr nichts aus, sondern sie fühlte sich ganz im Gegenteil auf
eine sonderbare Weise geborgen darin.
Ihre seltsame Hochstimmung bekam einen gehörigen Dämpfer, als sie
die Kühlschranktür öffnete.
Der Anblick war deprimierend: eine Fischkonserve, ein angegammelter
Salatkopf, an dem sich nicht einmal mehr eine halb verhungerte Schildkröte
vergreifen würde, und einige Scheiben
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