Unheil
Conny biss mit
aller Gewalt die Zähne zusammen, um ihm nicht auch noch die Genugtuung zu
gönnen, sie vor Schmerz wimmern zu hören. Trotzdem â oder vielleicht gerade
deshalb â trat er ihr noch einmal und noch härter gegen das Bein, dann beugte
er sich vor und riss sie mit der linken Hand und scheinbar so mühelos in die
Höhe, als wöge sie überhaupt nichts. Die andere hatte er halb erhoben, wie
Conny zunächst meinte, um sie zu schlagen, dann aber sah sie, dass diese
seltsame Haltung einen anderen Grund hatte: Wie fast alles an ihm war seine
Hand auÃergewöhnlich kräftig und wirkte irgendwie brutal, aber sie war nicht
mehr ganz vollständig. Der gröÃte Teil des kleinen Fingers fehlte, genauso wie
die äuÃere der ehemals drei gut zehn Zentimeter langen, gebogenen
Raubtierkrallen aus schartigem, aber rasiermesserscharf geschliffenem Stahl,
die mit einem komplizierten Geflecht aus Lederriemen an seinen Fingern
festgebunden waren. Das grässliche Gebilde erinnerte sie an Aislers künstliche
Vampirklaue, nur dass diese etwas von einem chirurgischen Präzisionsinstrument
gehabt hatte, während das Ding an der Hand ihres Gegenübers das genaue
Gegenteil zu sein schien: ein brutales Folterinstrument, das keinem anderen
Zweck diente, als Schmerzen zuzufügen und Angst zu verbreiten, zu verstümmeln
und zu töten. Selbst mit den beiden verbliebenen Krallen konnte er ihr mühelos
die Kehle aufschneiden, das wusste sie, aber sie bezweifelte zugleich auch,
dass er im Augenblick mit dieser Hand überhaupt noch etwas tun konnte. Trauschs
Schuss hatte ihm nicht nur eine der künstlichen Krallen, sondern auch den
kleinen Finger abgerissen. Seine Hand blutete stark, und es musste sehr wehtun.
Dennoch war Conny klar, dass sie vollkommen chancenlos gegen diesen
Kerl war. Er war kein zweieinhalb Meter groÃer Riese mit ReiÃzähnen und
Flügeln, wie sie in ihrer ersten Angst geglaubt hatte, aber sie schätzte ihn
dennoch auf gute ein Meter neunzig, und er musste mindestens dreiÃig Kilo mehr
wiegen als sie.
Und sie las in seinen Augen, dass er wild entschlossen war, sie
umzubringen. Genauso, wie er Sylvia getötet hatte.
Hinter ihr war plötzlich ein dumpfes Poltern, gefolgt von einem
Laut, der sich beinahe wie ein erleichtertes Seufzen anhörte, und ihr Peiniger
fragte: »Brauchst du Hilfe?«
»Jetzt nicht mehr, danke. Hast du sie?«
»Und wie«, antwortete er. »Du errätst nie, wen wir hier erwischt
haben!« Aus seinem schmerzverzerrten Grinsen wurde etwas anderes, das Conny
einen weiteren und noch eisigeren Schauer über den Rücken laufen lieÃ; ein
düsteres Versprechen aufkommender Qual und den sicheren, aber nicht leichten
Tod, und vielleicht Schlimmeres. Ganz instinktiv versuchte sie sich aus seinem
Griff zu winden, doch der Kerl demonstrierte seine überlegene Kraft, indem er
ganz einfach die Faust weiter schloss, mit der er sie bei den Jackenaufschlägen
gepackt hatte und ihr auf diese Weise die Luft abschnürte. Irgendwie gelang es
Conny, nicht nur trotzdem zu atmen, sondern auch den Kopf zu drehen und hinter
sich zu blicken.
Sie wünschte sich fast, sie hätte es nicht getan.
Was sie noch vor wenigen Augenblicken für ganz und gar
ausgeschlossen gehalten hätte, war geschehen: Trausch lag lang ausgestreckt auf
dem Boden, offensichtlich benommen und nachhaltig auÃer Gefecht gesetzt. Sein
Gesicht war blutüberströmt und sehr blass, und er hatte die Hand gegen den
linken Oberarm gepresst, wo sich das helle Leder seiner Jacke so rasch in einem
hässlichen, dunklen Rotbraun färbte wie ein Blatt Löschpapier, das sich mit
Tinte vollsog. Der Kerl, der ihn niedergeschlagen hatte, war auf die gleiche,
bizarre Weise gekleidet wie der, der Conny festhielt, aber noch gröÃer und
breitschultriger, und auch in seiner rechten Hand blitzte eine selbst
gebastelte Raubtierkralle aus Eisen. Ihre Spitzen schimmerten in einem hellen,
frischen Rot, und auch sein Gesicht, das so totenbleich geschminkt war wie das
des anderen, zeigte hektische rote Flecken, die sich sonderbarerweise zu
bewegen schienen. Zuerst hielt sie es ebenfalls für Blut, dann jedoch fiel ihr
auf, dass es der Widerschein von Feuer war. Die Flammen hatten irgendwo am
anderen Ende des Zimmers neue Nahrung gefunden und griffen jetzt immer rascher
um sich. In ein paar Minuten würde das ganze Zimmer in Flammen stehen,
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