Unheil
Indianerehrenwort«, versprach Conny und kreuzte die
Finger.
Sie wurde nicht mit einem Lächeln belohnt, aber immerhin einer Andeutung
davon, und nach einer weiteren Sekunde des Zögerns wandte sich die Sekretärin
um und verschwand mit schnellen Schritten in Levèvres Büro.
»Was war denn das?«, fragte Trausch stirnrunzelnd. »Solidarität
unter Frauen?«
»Solidarität gegen Männer«, antwortete Conny. »Das ist ein
Unterschied.«
»Ah ja«, machte Trausch. »Erklären Sie ihn mir?«
»Das wäre unsolidarisch.«
»Ja, und genau diese Antwort habe ich erwartet«, seufzte er. Sein
Lächeln wirkte nicht echt. Es gelang ihm immer noch nicht, vollkommen still zu
stehen, und auch in seinem Blick war ein unstetes Flackern, das vollkommen neu
an ihm war. AuÃerdem konnte sie sich nicht erinnern, ihn jemals so reizbar und
ungeduldig erlebt zu haben wie gerade.
Die Sekretärin kam zurück, einen grünen Aktendeckel wie einen Schatz
an die Brust gepresst und mit unstetem Blick, der beständig zwischen ihr und
der geschlossenen Tür hin- und herirrte. Es kam ihr schon beinahe absurd vor,
doch plötzlich spürte sie ihr schlechtes Gewissen. Für Trausch und sie war es
vielleicht eine Lappalie, fast schon ein bisschen komisch â aber für diese Frau
war es mehr; ein Verstoà gegen eine eiserne Regel, die ihr Leben bestimmte. Was
sie gerade tat, so banal es auch in ihren Augen sein mochte, machte ihr
wirkliche Angst.
Conny nahm den Aktendeckel mit einem dankbaren Lächeln entgegen und
klappte ihn auf. Er enthielt nur ein einziges Blatt und ein mit einer
Büroklammer daran befestigtes Passfoto.
»Und?«, fragte Trausch.
Conny schüttelte enttäuscht den Kopf. Die Sekretärin hatte die Wahrheit
gesagt: Es gab eine gewisse Ãhnlichkeit, aber sie war
allenfalls oberflächlich und beschränkte sich auf seine â noch dazu ganz
offensichtlich falsche â Haarfarbe und sein Alter. Der Junge auf dem Bild war
ganz eindeutig nicht derselbe, der Trausch und sie in jenem Lokal beobachtet
hatte.
Sie klappte den Aktendeckel wieder zu und gab ihn zurück. »Das war
es schon«, sagte sie. »Sie haben uns wirklich sehr geholfen.«
»Und das ist auch nicht der Junge von Ihrem Foto«, antwortete die
Sekretärin. »Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er irgendetwas damit zu
tun hat. Ich habe ihn nur ein- oder zweimal getroffen, aber er hat einen netten
Eindruck gemacht. Soweit man das von einem Menschen sagen kann, den man kaum
kennt«, fügte sie in fast entschuldigendem Ton hinzu.
»Sie können sich auf ihre Menschenkenntnis verlassen«, sagte Conny.
»Das ist nicht der Mann, den wir suchen. Er sieht ihm nicht einmal ähnlich.
Aber Sie haben uns trotzdem sehr geholfen. Immerhin wissen wir jetzt, nach wem
wir nicht suchen müssen.«
Trausch sah sie eindeutig überrascht an, wollte schon wieder etwas
sagen, was ihr wahrscheinlich nicht gefallen würde, aber Conny schnitt ihm
abermals das Wort ab. »Dann wollen wir Sie auch nicht länger aufhalten. Sie
haben sicher noch eine Menge zu tun ⦠genau wie wir. Und wie gesagt: Unseretwegen
müssen Sie Professor Levèvre mit dieser Lappalie nicht belästigen.«
»Und Ihren Praktikanten auch nicht«, fügte Trausch hinzu. »Er würde
sich nur vollkommen unnötige Sorgen machen.«
»Sorgen?«
»Jeder wird nervös, wenn er hört, dass sich die Polizei nach ihm
erkundigt hat«, antwortete Trausch lächelnd. »Sie etwa nicht?«
»Doch«, gestand sie. »Aber keine Angst â ich kann ihm gar nichts
verraten. Sein Praktikum geht eigentlich nur noch bis morgen.«
Conny bedankte sich noch einmal mit einem Kopfnicken und dem
herzlichsten Lächeln, das sie zustande brachte, wandte sich zum Ausgang und
blieb auf halber Strecke wieder stehen, um sich noch einmal zu Levèvres
Sekretärin umzudrehen. »Eigentlich?«
»Er ist heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen«, antwortete sie.
So etwas wie ein betrübter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, aber auch
Resignation. »Das ist leider auch nichts AuÃergewöhnliches heutzutage.«
»Hat er angerufen oder sich sonst irgendwie entschuldigt?«, fragte
Trausch. Er wurde plötzlich wieder sehr aufmerksam.
»Nein. Ich nehme an, er hat einfach keine Lust mehr gehabt. So etwas
erleben wir hier andauernd. Ich
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