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Unheil

Unheil

Titel: Unheil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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schwächer und zugleich vollkommen anders; verlockender .
    Es war dieser letzte Gedanke, der sie wirklich erschreckte.
Verdammt, was war eigentlich mit ihr los? Bildete sie sich vielleicht ein, sich
allmählich in einen Vampir zu verwandeln?
    Conny verzog humorlos die Lippen, als ihr klar wurde, was
sie da gerade gedacht hatte. Vampir? Das letzte Mal, als sie in den Spiegel
gesehen hatte, hatte sie der Anblick eher an einen Zombie erinnert.
    Das heiterte sie nicht wirklich auf, löste jedoch ein Stück weit die
Spannung, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie ging ein wenig schneller
weiter, erreichte nach einem guten Dutzend Stufen das Ende der ausgetretenen
Betontreppe und stieß abermals auf Widerstand; diesmal auf Metall. Ihre Finger
tasteten nach der Türklinke und drückten sie herunter, und endlich nahm sie
wieder einen schwachen Lichtschimmer wahr. Es war tatsächlich nicht mehr als
ein Hauch, aber es war Licht, nach einer schieren
Ewigkeit, die sie durch vollkommene Schwärze gestolpert war, eine wahre Labsal
nicht nur für ihre Augen, sondern auch für ihre Seele.
    So leise wie möglich schob sie die Tür weiter auf, quetschte sich
durch den schmalen Spalt und sah sich mit klopfendem Herzen um. Es war das
zweite Mal an einem Tag, dass sie einen Keller betrat, doch der Unterschied
hätte nicht größer sein können. Tess’ Zimmer war ein behagliches Zuhause
gewesen, eine selbst geschaffene Zuflucht tief unter der Erde, in die sie sich
verkrochen und die ihr Schutz vor einer feindlichen Welt und einem spießigen
Elternhaus geboten hatte; jetzt erstreckte sich vor ihr ein Universum, das nur
aus Schatten und unterschiedlichen Abstufungen von Dunkelheit zu bestehen
schien. Sie spürte, wie groß der Raum war, der sich vor ihr ausbreitete – kein
Keller, sondern ein unterirdischer Saal, der weder einen erkennbaren Anfang
noch ein Ende zu haben schien – aber alles, was sie sah, waren
ineinanderfließende Schatten und ein sonderbar regelmäßiges Muster aus
rauchigen vertikalen Linien, die sie erst auf den zweiten Blick als ein Gewirr
meterdicker eckiger Betonsäulen identifizierte, die die Decke trugen. Von
irgendwoher drang ein regelmäßiges klopfendes Geräusch an ihr Ohr, als liefe
irgendwo noch eine der uralten Maschinen, die früher einmal hier gearbeitet
hatten, oder als schlüge tief unter ihren Füßen ein gewaltiges stählernes Herz.
Schatten glitten auf lautlosen Schwingen durch die Luft, und irgendetwas
bewegte sich; ganz eindeutig außerhalb ihres Sichtfeldes, aber sie spürte es
trotzdem.
    Jemand war hier.
    Etwas war hier.
    Conny gemahnte sich zum wiederholten Male an diesem Tag in Gedanken
zur Ordnung, schloss die Tür ebenso lautlos hinter sich, wie sie sie geöffnet
hatte, und blieb dann wieder stehen, um noch einmal zu lauschen. Nach ein paar
Sekunden gelang es ihr, sowohl das schwere Schlagen ihres eigenen Herzens als
auch die anderen Laute auszublenden, mit denen ihre eigene Phantasie ihr
zusetzte, aber das unheimliche Geräusch blieb. Es hatte etwas Mechanisches. Und
auch der Geruch war immer noch da.
    Es war schwer, die Richtung auszumachen, aus der die Geräusche
kamen. Der Keller hatte eine irritierende Akustik, die von der düsteren
Beleuchtung und dem sinnverwirrendenden Tanz von Licht und Schatten nur noch
verstärkt wurde. Wenn sie in der Dunkelheit oben nicht gänzlich die
Orientierung verloren hatte, musste sie sich jetzt unter einer der leer
stehenden Produktionshallen befinden. Vermutlich gab es ein Dutzend Ausgänge,
wenn nicht mehr, und eine Anzahl von Räumen, die mindestens dreistellig sein
musste. Aber irgendetwas sagte ihr, dass sie auf dem richtigen Weg war. Die
Polizistin in Conny, jener Teil von ihr, den sie ein Leben lang auf logisches
Denken, das Erkennen von Zusammenhängen und Abschätzen von Wahrscheinlichkeiten
konditioniert hatte, schien sich bei diesem Gedanken zu krümmen wie ein
getretener Wurm. Dennoch setzte sie ihren Weg fort.
    Ihre Schritte erzeugten leise, schmatzende Geräusche auf dem mit
jahrzehntealtem Schmutz und Öl getränkten Betonboden, und das lautlose Huschen
der Schatten rings um sie herum schien hektischer zu werden, als gäbe es hier
drinnen etwas Unsichtbares und Körperloses.
    Sie sollte nicht hier sein. Ein Teil von ihr, dessen Existenz sie
möglicherweise Zeit ihres Lebens gespürt, aber hartnäckig verleugnet

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