Unheil
darin bestand, einen klaren Kopf zu bewahren. Letzten Endes
stand sie einem Kind gegenüber, das sich nur in den Körper eines beinahe
Erwachsenen verirrt hatte. Sie wusste zumindest theoretisch, was zu tun war:
Ruhe bewahren, ihre Ãberlegenheit demonstrieren und an seine Vernunft
appellieren.
AuÃerdem bestand immer noch die Chance, dass dieser kleine Mistkerl
verblutete, wenn sie ihn lange genug hinhielt.
»Wenn du jetzt einfach gehst, dann kommst du noch halbwegs
ungeschoren davon, Frank«, sagte sie. »Bis jetzt ist nicht viel passiert.
Jedenfalls nichts, was man nicht irgendwie geradebiegen könne. Also wirf das
Messer weg und hilf uns, oder verschwinde einfach.«
Sie fragte sich, warum sie das eigentlich sagte. Selbst wenn der
Junge noch in einem Zustand gewesen wäre, ihre Worte wirklich aufzunehmen,
hätte er kaum auf sie gehört.
»Du gehst nirgendwohin und ich auch nicht«, lallte Frank. Er packte
sein Messer fester, suchte mit der linken Hand festen Halt an der rauen
Betonwand des Treppenhauses und machte einen einzelnen, schwerfälligen Schritt
die erste Stufe herauf. Das Blut, das an seinem Mantel hinabrann, hinterlieÃ
eine unregelmäÃige Spur winziger, in der schummerigen Beleuchtung schwarz
aussehender Tropfen. Etwas an diesem Anblick ⦠verwirrte Conny. Sie versuchte
sich einzureden, dass es Frank war, die Gefahr, die trotz allem von ihm
ausging, seinem Messer und vor allem der schieren Mordlust in seinen Augen,
aber das stimmte nicht. Es war etwas anderes. Etwas, das zu erkennen sie sich
weigerte. Weil es nicht sein durfte.
»Bleib stehen«, beschwor sie ihn noch einmal. »Zwing mich nicht, dir
wehzutun, Junge.«
Frank lachte dreckig, schleppte sich mit einem torkelnden Schritt
eine weitere Stufe herauf und versuchte sein Messer zu heben, und Conny trat
ihm die Waffe ohne die geringste Mühe aus der Hand. Das Messer flog in hohem
Bogen davon, verschwand in der Dunkelheit und schlug irgendwo klappernd auf.
Der Junge keuchte vor Schmerz und Wut, rang mit wild rudernden Armen um sein
Gleichgewicht und verlor diesen Kampf, indem er gegen die Wand prallte und in
seinem eigenen Blut ausrutschte. Er fiel nicht wirklich, sondern fing seinen
Sturz im letzten Moment mit beiden Händen ab, und damit hätte es vorbei sein
können â¦
â¦Â wäre da nicht noch immer dieses lautlose Flüstern in ihr gewesen;
etwas wie eine Stimme, die in einer nie gekannten Sprache zu ihr sprach und ihr
Dinge einflüsterte, die sie nicht hören wollte und nicht hören durfte, gegen
die sie hilflos war; vielleicht, weil Conny sich tief drinnen in sich gar nicht
wehren wollte. Statt sich einfach umzudrehen und
diesen schrecklichen Ort zu verlassen, wie sie es selbst von sich in einer
Situation wie dieser erwartet hätte, überwand sie die beiden letzten Stufen mit
einem einzigen Satz, packte den Jungen an den Aufschlägen seines schwarzen
Kunststoffmantels und riss ihn so grob in die Höhe, dass er ein zweites Mal
erschrocken aufschrie â allerdings nur so lange, bis sie ihn mit solcher Wucht
gegen die Wand stieÃ, dass ihm nicht nur die Luft wegblieb, sondern auch sein
Hinterkopf mit einem hörbaren Knirschen gegen den schmutzigen Beton stieÃ.
Frank verdrehte die Augen und erschlaffte in ihren Händen, und damit hätte es
vorbei sein müssen, aber das war es immer noch nicht.
Plötzlich war da nur noch Wut in ihr, ein rasender, roter Zorn, der
jeden anderen klaren Gedanken einfach hinwegfegte. Dieser verdammte kleine
Mistkerl hatte die Mädchen und sie töten wollen, und dafür würde sie ihm wehtun und ihn töten!
Statt ihn loszulassen, packte sie ihn nur noch fester, wirbelte ihn
an den Mantelaufschlägen herum und warf ihn mit noch gröÃerer Wucht an die
gegenüberliegende Wand. Frank quietschte vor Schmerz und Angst, kippte in einer
grotesk langsamen Bewegung zur Seite, und Conny half der Entwicklung nach,
indem sie ihn an der Schulter ergriff und ihm einen Stoà versetzte, der ihn die
zwei Stufen hinunterschleuderte, bis er mit ausgebreiteten Armen und dem
Gesicht voran zu Boden fiel und gute zwei oder drei Meter weit
davonschlitterte. Aus seinem Schrei wurde ein Wimmern, und Conny konnte seinen
Schmerz im wahrsten Sinne des Wortes körperlich nachempfinden.
Seinen Schmerz â und die Angst.
Irgendetwas ⦠geschah mit ihr. Ein Teil von ihr registrierte mit einer
Mischung aus
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