Unheil
sie nur wie durch ein Wunder nicht zusammen mit Mirjam
kopfüber die Betonstufen hinunterstürzte. Mit einiger Mühe fand sie ihr
Gleichgewicht wieder, drängte das Mädchen gegen die Wand und überzeugte sich
davon, dass Mirjam aus eigener Kraft stehen konnte, bevor sie dann mit einer
umso wütenderen Bewegung zu Tess herumfuhr, sie mit beiden Händen an den
Schultern packte und so fest schüttelte, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Jetzt reichtâs!«, zischte Conny sie an. Sie hätte geschrien, hätte
sie nicht Angst gehabt, Aisler und seinen messerschwingenden Kumpan damit auf
sich aufmerksam zu machen. »Du wirst dich jetzt zusammenreiÃen, hast du das
verstanden? Wir müssen hier raus, und das schnell, und ich habe verdammt noch
mal keine Lust, deinetwegen draufzugehen! Also reià dich zusammen und geh
weiter!«
Zunächst sah es tatsächlich so aus, als reagierte das Mädchen auf
ihre Worte. Irgendetwas erschien in der Leere in ihrem Blick, und sie schien
etwas erwidern zu wollen. Conny lieà ihre Schulter los, und Tess drehte sich
langsam um, machte einen einzelnen Schritt â und setzte sich auf die nächste
Stufe. Was immer in ihrem Blick gewesen war, erlosch und machte einer
neuerlichen und umso schrecklicheren Leere Platz. Conny hätte beinahe laut
aufgeschrien.
»Verdammt noch mal, Tess, du â¦Â«
»Lassen Sie sie«, murmelte Mirjam. »Sie hört Sie nicht. Sie müssen
weg. Nehmen Sie sie mit.«
Conny verstand nicht, wovon sie sprach. »Wie?«, murmelte sie. Mirjam
lehnte mit totenbleichem Gesicht an der Wand und presste den verletzten Arm
gegen den Bauch. Er blutete noch immer. Sie zitterte.
»Sie müssen sie tragen.«
»Und du?«
»Ich schaffe das schon«, behauptete Mirjam. Aber sie würde nirgendwo
hingehen, begriff Conny, jedenfalls nicht aus eigener Kraft. Selbst in dem kaum
erleuchteten Treppenhaus konnte sie sehen, wie blass das Mädchen war. Mirjam
zitterte am ganzen Leib, und ihre Stimme war flach.
»Das kommt überhaupt nicht infrage«, antwortete sie. »Es sind nur
noch ein paar Schritte.«
»Aber Sie müssen weg«, beharrte das Mädchen. »Sie können uns nicht
beide tragen.«
»Das muss sie auch nicht, SüÃe«, sagte eine Stimme vom unteren Ende
der Treppe aus. Conny fuhr erschrocken herum und blickte in ein blutiges,
verheertes Gesicht. Ein Springmesser mit einer handlangen Klinge blitzte
darunter auf. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich kriege«, fuhr Frank fort.
Seine Stimme war schrill und hysterisch. Conny hörte den beginnenden Wahnsinn
darin, aber auch den schier unerträglichen Schmerz, den der Junge empfinden
musste. Vlads Degen hatte sein Gesicht bis auf den Knochen aufgeschlitzt. Blut
lief in Strömen an seinen Wangen hinab und bildete kleine glitzernde Rinnsale
auf dem schwarzen Kunststoff seines Mantels.
»Das warâs dann, SüÃe«, fuhr er fort. »Du kannst jetzt freiwillig
runterkommen, und wir bringen die Sache kurz und schmerzlos hinter uns ⦠na ja â¦Â«,
er kicherte, »â¦Â sagen wir, wenigstens kurz ⦠oder du tust mir einen Gefallen und
versuchst wegzulaufen. Das macht die Sache spannender, finde ich.« Er fuchtelte
weiter mit seinem Messer herum. »Und die beiden Kleinen da lässt du natürlich
hier. Du hattest schlieÃlich deine Chance, oder?«
»Lauf weg«, murmelte Mirjam. »Ich ⦠kann ihn aufhalten. Hol ⦠Hilfe.«
Sie hatte mittlerweile Mühe, überhaupt noch zu sprechen. Conny bezweifelte,
dass sie wirklich wusste, was sie sagte. Tess reagierte überhaupt nicht.
»Klar kannst du mich aufhalten«, kicherte Frank. Seine Stimme klang
jetzt schleppend, als wäre er betrunken. »Wir werden sogar eine Menge Zeit
miteinander verbringen. Aber zuerst muss ich mich um deine Freundin kümmern,
weiÃt du?«
Conny warf Mirjam einen raschen, mahnenden Blick zu, schüttelte unmerklich
den Kopf und versuchte, nicht nur die Panik niederzukämpfen, sondern sich auch
zumindest äuÃerlich zur Ruhe zu zwingen. Sie hätte sich gerne eingeredet, dass
sie schon öfter in solchen oder gar gefährlicheren Situationen gewesen war und
sie gemeistert hatte, aber wenn sie die letzten Tage einfach einmal auÃer Acht
lieÃ, dann wäre das eine glatte Lüge gewesen. Dennoch wusste sie, dass ihre
einzige Chance
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