Unheil
Stück weiter in die Richtung verrückt, in der die
Schatten und die bösen Träume lauerten.
Conny gestattete ihren Gedanken nicht, sich ebenfalls weiter in
diese Richtung zu bewegen, sondern trat rasch an den Einbauschrank neben der
Tür und nahm praktisch wahllos ein paar Sachen heraus. Ihr Bewacher war unter
der Tür stehen geblieben und gab sich zwar alle Mühe, an ihr vorbei auf einen
Punkt irgendwo an der Wand zu starren, machte jedoch auch keine Anstalten, zu
gehen oder gar die Tür zu schlieÃen. Das tat er erst, nachdem sich Conny
demonstrativ geräuspert und noch demonstrativer an sich herabgesehen hatte.
Sie schloss zusätzlich hinter ihm ab, glitt rasch aus dem geliehenen
Morgenmantel und schlüpfte noch schneller in Jeans, bequeme weiÃe Turnschuhe
und einen gleichfarbenen Pullover, der im Gegensatz zu der Kleidung von
Trauschs Frau um mindestens zwei Nummern zu groà war, wenn auch äuÃerst bequem.
Als sie den Blick hob und in den Spiegel sah, starrte sie in Vlads
Gesicht.
Kapitel 20
»Ich muss
gestehen, dass ich ein wenig im Zweifel war, als ich deine Auswahl gesehen
habe«, sagte Vlad lächelnd, »aber die Kleider stehen dir ausgezeichnet.
Irgendwie habe ich immer geahnt, dass es nichts gibt, worin du nicht gut
aussiehst.«
Conny wartete vergebens darauf, zornig zu werden oder auch nur
überhaupt etwas zu empfinden, aber sie war auch nicht sicher, ob sie in diesen
Sekunden geatmet oder ihr Herz auch nur geschlagen hatte. Sie blieb weitere
Atemzüge lang einfach stehen, starrte im Spiegel sein Konterfei an, das
lächelnd über ihre Schulter sah, und presste schlieÃlich für mindestens ebenso
lange Zeit die Lider aufeinander. Als sie die Augen wieder öffnete, war Vlad
nicht nur noch immer da, sondern sah sie auch mit einer Mischung aus sachter
Missbilligung und vielleicht nicht ganz so sachtem Spott an.
»Ich bin keine Halluzination, wenn es das ist, was du glaubst«,
sagte er. »Oder, um genauer zu sein, glauben möchtest .
Du hättest es vielleicht gern, weil es alles um so viel leichter für dich
machen würde. Aber ich fürchte, ich bin ebenso real wie du.«
»Nein, ganz bestimmt nicht«, antwortete Conny überzeugt, nur, um im
nächsten Atemzug etwas eingedenk ihrer eigenen Worte vollkommen Widersinniges
hinzuzufügen: »Was wollen Sie von mir?«
»Bitte!«, seufzte Vlad. »Glaubst du wirklich, jetzt wäre der
richtige Moment, um Zeit mit Fragen zu verschwenden, deren Antwort du schon
kennst?«
Conny starrte ihn weiter an. Das Einzige, was sie wirklich wusste,
war, dass er nicht existierte und sie ihm nicht noch mehr Macht über sich
einräumen würde, als er sowieso schon hatte, indem sie ihm auch nur die bloÃe Möglichkeit dieser Existenz zubilligte. Sie belieà es bei
einem abfälligen Verziehen der Lippen, drehte sich mit einem Ruck um und
streckte die Hand nach der Tür aus, und Vlad sagte: »Willst du denn gar nicht
wissen, wer ihn getötet hat?«
Conny entriegelte die Tür und drückte die Klinke herunter, fest
entschlossen, ihn einfach zu ignorieren und das Gespenst endgültig aus ihrem
Leben zu verbannen, auch wenn es viel zu spät dafür war, und Vlad fügte hinzu:
»Oder warum?«
Conny erstarrte. Ihre Hand schloss sich so fest um das kalte Metall
des Türgriffs, dass es wehtat, und für einen Sekundenbruchteil kam sie sich vor
wie in einem jener schrecklichen Albträume, in denen sich die Wände des Raumes
ebenso lautlos wie unaufhaltsam immer weiter um einen herum zusammenzogen, um
einen zu ersticken. Ob sie es wissen wollte? Natürlich wollte sie wissen, wer Trausch
getötet hatte, mehr als irgendetwas auf der Welt, aber nicht von ihm. Um keinen
Preis von ihm. Wenn er es wusste, dann bedeutete das,
dass auch sie es bereits wusste. Und das hätte sie nicht ertragen.
»Ich verstehe«, sagte Vlad. Conny sah jetzt nicht mehr in den
Spiegel, und sie drehte sich auch nicht zu ihm herum, doch sie konnte hören,
wie er sich bewegte. Seine Kleider raschelten, und sie konnte regelrecht sehen,
wie seine Finger mit dem Spazierstock mit dem silbernen Knauf zu spielen
begannen. Vielleicht, um die verborgene Klinge hervorzuziehen und auch ihrem
Leben ein Ende zu bereiten. Zugleich wusste sie, dass es nicht geschehen würde.
Das konnte er nicht, und hätte er es gekonnt, so hätte er es ihr niemals so
einfach gemacht. Sie
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