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Unheil

Unheil

Titel: Unheil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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weiter an. Wahrscheinlich, dachte Conny, war sie gerade dabei, sich in den
Augen ihres Gegenübers endgültig zur Närrin zu machen. Trotzdem zwang sie sich
zu einem noch freundlicheren Lächeln und fuhr fort: »Außerdem sind wir ja auch
schon fast so etwas wie Freundinnen, oder?«
    Â»Sind wir das?«, fragte Tess. Der schrille Missklang ihrer Stimme
machte es unmöglich, ihre wirklichen Gefühle herauszuhören, aber der Blick, mit
dem sie sie maß, drückte allerhöchstens Furcht aus, wenn überhaupt irgendein
Gefühl. Eigentlich war er erschreckend kalt, dachte Conny.
    Aber was hatte sie erwartet? Dieses Mädchen hatte etwas erlebt, an
dem die meisten anderen wahrscheinlich zerbrochen wären. Im Grunde war es ein
kleines Wunder, dass man überhaupt mit ihr sprechen konnte!
    Â»Er hat dich ganz schön zugerichtet«, sagte Tess plötzlich. Dich . Das war schon einmal ein Fortschritt.
    Â»Nicht so schlimm wie ich ihn«, antwortete Conny. Insgeheim war sie
froh, dass Theresas Mutter diese Worte nicht hörte, nach der kleinen
Moralpredigt, die sie selbst ihr vor wenigen Minuten erst gehalten hatte.
    Â»Er ist tot«, sagte Tess. »Ich weiß.« Ihrer Stimme war keinerlei
Zufriedenheit anzuhören, nicht einmal Erleichterung.
    Â»Ja«, bestätigte sie. »Ich will nicht sagen, dass ich es gut finde,
aber es ist vorbei.«
    Wieder gelang es ihr nicht, in ihrem Gesicht zu lesen. Sie konnte
nicht einmal sagen, ob das Mädchen wenigstens bei diesem Gedanken Erleichterung
empfand.
    Â»Meine Mutter hat dich geschickt«, sagte Tess plötzlich.
    Â»Stimmt«, gestand Conny unumwunden. »Aber ich wäre sowieso gekommen,
wenn ich gewusst hatte, dass wir im selben Hotel abgestiegen sind.«
    Â»Warum?«
    Â»Um mich von dir bewundern zu lassen und mich deiner ewigen
Dankbarkeit zu versichern, weil ich dir das Leben gerettet habe?«, schlug Conny
vor. Tess blieb vollkommen ernst, und Conny zuckte mit den Schultern und
versuchte es ein letztes Mal und mit einer anderen Taktik. Wenn Tess weiter
zumachte, dann würde sie aufgeben und einfach wieder gehen. Wahrscheinlich wäre
es ohnehin besser gewesen, sie wäre gar nicht erst gekommen.
    Â»Ich wollte einfach nur nachsehen, wie es dir geht«, sagte sie. »Und
ob ich vielleicht irgendetwas für dich tun kann.«
    Â»Du hast schon genug getan, danke.« Tess versuchte sich aufzusetzen
und verzog das Gesicht. Wahrscheinlich tat es weh. Trotzdem fuhr sie fort: »Mit
mir ist alles in Ordnung. Ich bin noch ein bisschen schlapp, das ist alles.
Aber der Arzt sagt, dass ich in ein paar Tagen wieder ganz auf den Beinen bin.«
Sie verzog das Gesicht und fügte hinzu: »Der Arsch.«
    Conny blickte fragend.
    Â»Als ich auf seinem Tisch lag, hat er mir bei der Gelegenheit gleich
mein Bauchnabelpiercing rausgenommen. Wahrscheinlich hat meine Mutter ihm
gesagt, dass er das tun soll.«
    Â»Du hast kein besonders gutes Verhältnis zu deiner Mutter, wie?«,
fragte Conny.
    Â»Doch«, behauptete Tess. »Aber sie nicht zu mir.«
    Conny lachte.
    Â»Was ist so komisch?«, wollte Tess wissen.
    Â»Oh, nichts«, sagte Conny rasch. »Warte einfach zwanzig oder
fünfundzwanzig Jahre, und du wirst es verstehen.«
    Â»Fünfundzwanzig Jahre?« Tess schnaubte. »Bis dahin ist diese ganze
Scheißwelt doch längst den Bach runtergegangen.«
    Conny zog es vor, nicht darauf zu antworten. Sie war ganz gewiss
nicht hergekommen, um sich auf eine jener pseudo-philosophischen Diskussionen
einzulassen, mit denen man sich in diesem Alter so gerne die Nächte um die
Ohren schlug, bis es wieder hell wurde. Das hatte sie selbst oft genug getan,
als sie so alt wie Tess gewesen war, aber seltsamerweise war die Welt dadurch
weder besser geworden, noch hatte sie den Weg zur ewigen Erleuchtung gefunden.
    Â»Das Mädchen gerade«, fragte sie. »Wer war das? Eine Freundin?« Sie
bemerkte das Misstrauen, das plötzlich in Tess’ Augen aufglomm, und beeilte
sich, hinzuzufügen: »Ich frage nur aus Neugierde, nicht als Polizistin.«
    Â»Beides«, antwortete Tess nach einem weiteren, spürbaren Zögern. Das
misstrauische Flackern in ihren Augen wurde ein wenig schwächer, verschwand
aber nicht ganz. »Eine gute Freundin. Meine beste.«
    Â»Ich dachte, das wäre ich«, antwortete Conny in gespielt beleidigtem
Ton, aber Tess blieb immer noch misstrauisch.

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