Unheil ueber Oxford
sich selbst Hoffnungen gemacht, Ihren Aufgabenbereich zu übernehmen, aber sie kommt mit ihrer eigenen Arbeit kaum zurande – mehr würde gar nicht gehen. Außerdem wäre sie nicht in der Lage, auch Seminare zu übernehmen, so wie Sie.«
Kate versuchte, so auszusehen, als ob sie mindestens einmal wöchentlich ein Seminar leitete. Sadie öffnete die Schubladen von Chris Townsends Schreibtisch.
»Hier sind Stifte und Büromaterial. In der untersten Schublade befinden sich die Ordner mit den laufenden Projekten. Wahrscheinlich wäre es am einfachsten, wenn Sie sie durchforsten und sich selbst ein Bild davon machen, was wichtig ist. Lesen Sie die Korrespondenz, schauen Sie sich das Programm des Workshops an. Ist es okay, wenn ich Sie damit allein lasse?«
»Klar«, sagte Kate. »Was ist mit dem Computer? Sind nicht die meisten seiner Briefe abgespeichert?«
»Gut, dass Sie daran denken! Ich nehme an, Sie können mit diesen Dingern umgehen.«
»Durchaus«, nickte Kate und dankte insgeheim der Universität, dass Sie ein einheitliches Textprogramm eingeführt hatte.
»Gott sei Dank, dann kann es wenigstens einer. Ich hasse Computer. Mit Notizblock und Stift arbeite ich tausendmal lieber. Was halten Sie davon, wenn wir uns jetzt einen Kaffee gönnen? Danach lasse ich Sie in den Akten stöbern.«
Sie durchquerten das Hauptbüro und betraten einen kleinen Raum, der mit Wasserkocher und einigen Stühlen ausgestattet war. Zwar gab es nur Instantkaffee, aber Kate hatte das Gefühl, sie benötige dringend eine Dosis Koffein – ganz egal wie. Die Sekretärin des Quästors saß bereits bei einer Tasse Kaffee. Das ist also Annette, dachte Kate. Besitzergreifend, Chris ergeben und nicht sehr freundlich zu Außenstehenden.
»Hast du schon den netten Polizisten gesehen, Sadie?«, fragte Annette. »Ein feiner Kerl. Rötliches Haar, hübsche, blaue Augen und tolle, breite Schultern. Er ist dabei, unsere Aussagen aufzunehmen. Wirklich nett.«
Sadie schien keine Lust zu haben, darauf einzugehen, doch Annette sprach weiter.
»Er hat nach Chris gefragt. Danach, was an dem Nachmittag los war, als er starb. Ob wir ihn unmittelbar vor dem Unfall gesehen hätten. Warum er auf den Turm gestiegen wäre. Was für ein Mensch er war. Ob er oft getrunken hätte. Und ob er deprimiert gewirkt hätte. Ich habe den Polizisten daraufhin gefragt, ob er nicht verstehen könne, dass man depressiv wird, wenn man hier arbeiten muss.« Sie lachte.
»Und was hat er darauf geantwortet?«, erkundigte sich Kate.
»Oh, anscheinend hat er keinen Sinn für Humor«, sagte Annette. »Er wollte sofort wissen, was ich damit meine. Hakte nach, ob Chris tatsächlich Probleme mit seiner Arbeit gehabt hätte – solche Dinge eben.«
»Hatte er denn Probleme?«, wollte Kate wissen.
»Nicht mehr als jeder andere auch«, antwortete Annette. »Aber deshalb springen wir noch lange nicht vom Turm.«
»Also wirklich, Annette!«, rügte Sadie. »Wie du darüber redest! Du bist der gefühlloseste Mensch, den ich kenne!« Sadie presste die vollen, roten Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
»Nur keine künstliche Aufregung!« Annette schien unfähig zu sein, sich anders als in Klischees auszudrücken. »Man muss es mit Humor nehmen, wenn man nicht losheulen will. Schließlich wissen wir alle, warum du besonders betroffen bist.« Sie wandte sich an Kate. »Unsere Sadie hatte eine kleine Schwäche für Chris«, erklärte sie vertraulich.
»Halt den Mund!«, fuhr Sadie sie an. »Du tratschst einfach zu viel. Vielleicht solltest du dich erst kundig machen, ehe du Gerüchte in die Welt setzt.«
Jeder Mensch mit etwas Einfühlungsvermögen hätte jetzt geschwiegen. Nicht so Annette. »Du brauchst es nicht zu leugnen. Wir alle haben gesehen, wie du ihn angeschaut hast! Und wie ihr euch immer in dein Büro zurückgezogen und uns ausgeschlossen habt!«
»Vielleicht haben wir das nur getan, um deinem Gekeife zu entkommen«, erwiderte Sadie.
»Du brauchst wirklich nicht ausfallend zu werden«, sagte Annette und knallte ihre Tasse auf das Tablett. »Ich mache doch nur Spaß. Du solltest allmählich lernen, einen Scherz zu ertragen.«
»Hatte der nette Polizist einen Namen?«, fragte Kate Annette beim Hinausgehen.
»Keine Ahnung. Haben Polizisten überhaupt Namen? Und wieso interessiert Sie das überhaupt? Das alles hat absolut nichts mit Ihnen zu tun.« Mit diesen Worten kehrte die Sekretärin in ihr Büro zurück.
»Bitte entschuldigen Sie diesen Auftritt«, sagte
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