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Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers

Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers

Titel: Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Wilfling
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Mädchen verhaftet, ein fürsorglicher vierfacher Familienvater, nicht vorbestraft und als Postbote arbeitend. Also kein Sexual- oder Triebtäter, kein Serienkiller, kein Gewohnheits- oder Gewaltverbrecher und kein psychisch kranker, abartig veranlagter Mensch, sondern einer, der in ländlicher Idylle mitten unter uns lebte, angepasst, anerkannt, geachtet und von den Seinen geliebt. Kein Wunder, dass sich die fassungslose Öffentlichkeit fragte, wie so etwas möglich sein konnte. Was hatte diesen Mann dazu getrieben, ein so unvorstellbares Verbrechen zu begehen, für das es nicht einmal ansatzweise eine wie auch immer geartete Erklärung geschweige denn Rechtfertigung gab?
    Zwischenzeitlich weiß man mehr, denn die Staatsanwaltschaft hat in ihrer Anklageschrift ein Motiv formuliert. Durch die Tötung der Mädchen und der Mutter, die in jener Nacht arbeitete und nur zufällig verschont blieb, habe der mutmaßliche Mörder einen Erbstreit zugunsten seiner übrigens völlig ahnungslosen Ehefrau entscheiden wollen. Deren Schwester nämlich, die Mutter der Mädchen, blockierte den Verkauf einer kleinen Wohnung, die den Geschwistern zu gleichen Teilen gehörte. Durch den Erlös habe er wohl den finanziellen Ruin und die Versteigerung seines neu erbauten Hauses abwenden wollen. Vordergründig ist das Tatmotiv also Habgier, ausgelöst durch Verlust- beziehungsweise Existenzangst, gepaart mit Wut, Hass, Verzweiflung oder Ausweglosigkeit.
    »Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe«, lautet ein bekanntes Sprichwort. Auf Mord und Totschlag übertragen ist nicht die Tat als solches gemeint und auch nicht das juristisch festgestellte Motiv, sondern der jeweilige individuelle Hintergrund und die Ausgangslage. Nur wenn man diese kennt, kann man eine abschließende moralische Bewertung vornehmen. In meinem Buch Abgründe habe ich im Kapitel »Habgier« beispielweise die unglaublich kaltblütige Tat eines Polizisten beschrieben, der in einer Nacht zwei Menschen bei lebendigem Leibe enthauptete, um sich um 140 000 Euro zu bereichern. Das Gericht verurteilte ihn wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Motiv: Habgier.
    Vergleicht man nun dieses Verbrechen mit dem des mutmaßlichen Mädchenmörders, kommt man rein juristisch zum gleichen Ergebnis: hier wie da Habgier. Erst wenn man das Motiv hinter dem Motiv betrachtet, erkennt man den Unterschied, denn allein darin offenbart sich der jeweilige individuelle Charakter eines Verbrechens.
    Der Polizist tötete zwei erwachsene Menschen, die im Augenblick ihrer Enthauptung betäubt waren und somit keinen qualvollen Tod erleiden mussten. Deshalb kam – juristisch gesehen – das Mordmerkmal der Grausamkeit nicht zum Tragen, auch wenn das schwer nachvollziehbar scheint. Was allerdings sein Motiv betraf, also seine innere Antriebskraft, so stand diese auf der tiefsten sittlichen Stufe, die man sich denken kann. Er selbst befand sich in keiner finanziellen Notlage, sondern hatte sogar ein ansehnliches kleines Vermögen angespart, das er jedoch unter allen Umständen mehren wollte – und zwar durch Geld, das seine Exfreundin von einer alten Tante geerbt hatte und von dem nie mand außer ihm etwas wusste. Dieses exklusive Wissen war es, das den Mordplan in ihm aufkeimen und reifen ließ und die latent vorhandene Habgier in pure Raffsucht umwandelte.
    Auch beim Mädchenmörder, so die Staatsanwaltschaft, sei es um eine Erbschaft gegangen. Sollte sich das bestätigen, waren die Zusammenhänge trotzdem ganz andere. Seine Tathandlung war zwar ungleich brutaler als die des Polizisten, und was das Mordmerkmal der Grausamkeit betrifft, kenne ich bundesweit keinen Fall, der mit diesem vergleichbar wäre, doch vermutlich handelte es sich nicht um pure Raffsucht wie beim Polizisten, sondern die Angst vor dem Verlust des neu erbauten Hauses dürfte im Vordergrund gestanden haben. Die gesamte Existenz der Familie und wohl auch seine gesellschaftliche Reputation wäre dahin gewesen. Rettung versprach er sich wahrscheinlich durch den Verkauf jener Eigentumswohnung, die zur Hälfte seiner Frau gehörte. Weil die Mutter der Mädchen sich vermutlich weigerte, dem Verkauf zuzustimmen, musste sie sterben. Und damit das Erbe nicht auf deren Töchter übertragen werden konnte, musste er auch diese töten.
    Es waren also ein Polizist und ein Postbote, die zwei der erschütterndsten, brutalsten Verbrechen der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland begingen. Wobei niemand aus deren Umfeld einem

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