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Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers

Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers

Titel: Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Wilfling
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von ihnen so etwas zugetraut hätte. »Der ist doch gar nicht fähig, jemandem wehzutun«, sagte eine Zeugin, die zu den Charaktereigenschaften eines dieser beiden befragt wurde. Sogar der größte und bedeutendste deutsche Denker und Dichter, nämlich Johann Wolfgang von Goethe, soll von sich selbst gesagt haben: »Es gibt kein Verbrechen, zu dem ich nicht fähig wäre.«
    Hat Goethe hier nicht etwas übertrieben? War er nicht etwas zu selbstkritisch oder zu oberflächlich in seiner Betrachtungsweise? Für mich würde ich jedenfalls ausschließen wollen, jemals zum Raub- oder Sexualmörder werden zu können, unter keinen denkbaren Umständen. Eigentlich habe ich mir überhaupt nie vorzustellen vermocht, jemals in eine Lage zu geraten, in der ich Mordgelüste entwickeln könnte. Andererseits stellte ich mir oft die Frage, was wohl aus mir geworden wäre, hätte ich nicht hier im friedlichen, wohlhabenden Deutschland gelebt, sondern in einer der vielen Regionen dieser Welt, in denen Mord und Totschlag zum Alltag gehören und vielfach aus dem täglichen Kampf ums Überleben resultieren.
    Heute, nach 42 Jahren Polizeiarbeit, nach 22 Jahren Mordkommission, nach der Bearbeitung / Aufklärung von 361 vollendeten und etwa 850 versuchten Tötungsdelikten, verstehe ich, was Goethe gemeint hat. Weil ich es Hunderte Male in der Praxis miterlebte. Es muss wohl doch so sein, dass jeder Mensch die Fähigkeit in sich trägt, zum Verbrecher zu werden. Ob diese je zur Entfaltung kommt, steht auf einem ganz anderen Blatt. Ähnlich sah es wohl der nicht weniger bedeutende Philosoph Immanuel Kant, der konstatierte, wir Menschen hätten zwar den Hang zum Bösen, unterlägen aber keinem Zwang, Böses auch tun zu müssen, da wir mit einem freien Willen ausgestattet seien. Manche Geisteswissenschaftler halten das Böse lediglich für einen Mythos. Denn böse sei nur, was wir als böse ansehen oder als böse empfinden. Und das könne erheblich differieren und von kulturellen, traditionellen und religiösen Einflüssen abhängig sein. Eine Sichtweise, der ich aufgrund meiner Erfahrungen nur voll beipflichten kann.
    Allerdings benötigt man als Mordermittler weder tiefgründige noch hochtrabende Definitionen des Bösen, noch helfen philosophische Weisheiten weiter. Man hat keine andere Wahl, als sich ausschließlich an der Realität zu orientieren. Das lässt einen im Laufe der Zeit zwangsläufig zum Pragmatiker werden. Und als solcher greift man auf seinen gesunden Menschenverstand zurück. Worauf auch sonst? Das wiederum setzt voraus, eigene Emotionen unter Kontrolle zu halten: ein langwieriger Lernprozess. Wenn man professionell arbeiten muss, bleibt für Visionen, Wunschträume oder schöne Theorien leider nur wenig Raum. Wobei der gesunde Menschenverstand besonders effektiv ist, wenn er durch ein breites Erfahrungsspektrum gespeist wird. Insofern halte ich es nicht für vermessen oder falsch, vorwiegend in der Praxis nach Antworten zu suchen. Zum Beispiel auf jene Frage, die sich am häufigsten aufgedrängt hat und die am häufigsten aufgeworfen wurde: »Was war es wirklich, das diesen oder jenen unbescholtenen Menschen zum Mörder werden ließ?« Eine Frage, die sich übrigens nicht stellt, wenn man es mit Schwerkriminellen zu tun hat.
    Wenn jemand ermordet wurde, lautet die erste Frage: »Wer hat das getan?« Die zweite Frage bezieht sich auf das Motiv: »Warum hat er / sie das getan?« Die dritte Frage richtet sich auf Hintergrund und Ursache: »Wodurch wurde das Motiv ausgelöst beziehungsweise aktiviert?«. In den meisten Fällen findet man die Täter erst, wenn man das Motiv kennt, und das wiederum verbirgt sich häufig hinter dem, was man als Ursprung der Tragödie bezeichnen könnte – wobei die Reihenfolge variabel ist.
    Bei allen Beziehungstaten gibt es, ohne Ausnahme, ein auslösendes Ereignis. Meist ist es leicht zu entdecken, weil es sich dabei um rein objektive Geschehnisse handelt, die sich im Leben des Täters oder des Opfers zugetragen haben. Das können ebenso negativ besetzte Vorkommnisse wie Streit, Zwietracht, Drohung oder Erpressung sein wie ein Lottogewinn, eine beträchtliche Erbschaft oder eine heimliche Liebe. Mordgedanken entstehen und entwickeln sich bei geistig gesunden Menschen immer auf realem Nährboden und sind im Grunde genommen nichts anderes als ein Unheil, das sich mehr oder weniger lange zusammenbraut, immer bedrohlicher wird und sich schließlich mit aller Wucht entlädt. Juristen bezeichnen solche

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