Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers
dahingestellt.
Die meisten Morde in Deutschland haben mit Kriminalität im herkömmlichen Sinne eigentlich nichts zu tun. Das mag sich merkwürdig anhören, ist aber so. Weil ausgerechnet das schwerste aller Verbrechen im zwischenmenschlichen oder gar intimen Bereich angesiedelt ist und in der Mehrzahl von Leuten begangen wird, die nicht unter Gewalterfahrungen in der Kindheit, einem finanziell schwachen Umfeld oder sonstigen negativen Einflüssen leiden mussten. Die Brandherde liegen also dort, wo besondere Nähe herrscht, wo Befindlichkeiten aufeinanderprallen und wo sich Begehrlichkeiten entwickeln können.
Bei jedem schrecklichen Verbrechen, das von bislang unbescholtenen Menschen begangen wurde, stellen sich Ermittler, Juristen und Psychologen die gleichen Fragen, die sich auch die Öffent lichkeit immer wieder von Neuem stellt: Wie ist es möglich, dass bei geistig gesunden Menschen ohne erkennbare kriminelle Energie und ohne negative Vita der Wille zu töten übermächtiger werden kann als das Gewissen, das uns doch moralische Schranken setzen soll? Was muss passieren, damit in einem bislang unauffälligen, angepassten, fried lichen Menschen Mordgedanken aufkeimen? Welche Ereignisse oder Lebenslagen können Emotionen wie Habgier, Eifersucht, Hass oder Zorn derart entgleisen lassen?
Bei vielen Beziehungstaten bin ich auf eine Kraft gestoßen, die im Gesetz nicht explizit genannt ist und die mir vorher auch nicht als potenziell gefährlich bewusst war, weil sie nicht als verwerflich oder verachtenswert gilt. Und doch ist sie vielfach Auslöser für schlimmste Verbrechen. Sie ist stärker als die Vernunft und stärker als alle anderen Emotionen. Es ist die Angst. Aber nicht die Angst um das eigene Leben oder die Gesundheit, sondern die Angst vor Verlust: in erster Linie vor dem Verlust materieller Werte, aber auch des sozialen Status, von Macht und Einfluss oder von Ehre, Ansehen, Karriere, Liebe, Geborgenheit oder Sicherheit. Angst hat viele Gesichter. Bei Verlust- oder Existenzangst gehen Menschen bisweilen im wahrsten Sinne des Wortes »über Leichen«. Wer davon befallen wird und keinen Ausweg findet, kann gefährlich werden. Es gilt, das bisher Erreichte unter allen Umständen zu erhalten beziehungsweise zu verteidigen, weil das eigene Streben nach Glück und Sicherheit über allem anderen steht, sogar über dem Recht auf Leben desjenigen, der als Bedrohung empfunden wird. Das kann der böse, seit Jahren nervende Nachbar ebenso sein wie die zickige Erbtante, die ihr Testament zu ändern gedenkt, oder die alte Oma, die trotz ihres hohen Alters einfach nicht sterben will, obwohl einen selbst die Hypotheken drücken. Oder die Nebenbuhlerin, die sich an den Ehemann heranmacht. Oder die Frau, die den Geliebten erpresst. Oder jemand, der schwer gedemütigt wurde und auf Rache sinnt, oder, oder, oder …
Fast wöchentlich liest man von Familientragödien, weil Männer – ja, es sind tatsächlich meist Männer – ihre Frauen und Kinder getötet haben: Sie konnten oder wollten nicht akzeptieren, verlassen worden zu sein. Es ist die klassische Verlustangst. Ein Psychiater formulierte es einmal anlässlich eines solch tragischen Geschehens ironisch: »Ist die Idylle bedroht, sieht Papi schnell rot.« Eine gefährliche Mischung aus Angst, Wut und Verzweiflung, die – f indet sich kein Ventil oder gibt es keine Hilfe – zur Explosion führen kann.
Als ich im Februar 2009 in Pension ging, glaubte ich, ich hätte alles erdenklich Schreckliche gesehen und es könne mich nichts mehr erschüttern. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Im März 2011 wurde die Münchner Mordkommission mit einem Verbrechen konfrontiert, das wohl als eines der unfassbarsten und schockie rendsten in die Kriminalgeschichte unseres Landes ein gehen wird. In Krailling bei München wurden zwei acht und elf Jahre alte Mädchen in der elterlichen Wohnung, in der sie sich zur Nachtzeit alleine aufhielten, derart grausam ermordet, dass die Menschen im ganzen Land wie gelähmt waren. Beide hatte man mit einem Messer erstochen, mit einem Seil stranguliert und mit einer Hantelstange erschlagen – als ob der Mörder unter Zeitdruck stand und sichergehen wollte, dass die Kin der wirklich tot waren. Sogar erfahrene Rechtsmedi ziner und Ermittler rangen um Fassung, als sie die Leichen sahen. Niemand konnte glauben, dass ein zurechnungsfähiger Mensch zu einer solchen Tat fähig sein könnte.
Knapp zwei Wochen später wurde der 50-jährige Onkel der
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