Unheil - Warum jeder zum Moerder werden kann Neue Faelle des legendaeren Mordermittlers
sich schlicht und einfach an der Realität zu orientieren. Wohl wissend indes, dass auch Erfahrungswerte nicht der Weisheit letzter Schluss sind, da es doch immer Ausnahmen von der Regel gibt. Das gilt ganz besonders für Mord und Totschlag. Nirgends sonst findet man so viele irrationale Handlungsweisen. Nichts kann so ratlos machen, nichts so wenig nachvollziehbar, so erschreckend und entsetzlich sein. Weil es nämlich nichts gibt auf dieser Welt, das komplizierter und unberechenbarer ist als die menschliche Psyche.
Die meisten der etwa 700 bis 800 Menschen in Deutschland, die das nächste Jahr nicht mehr erleben, weil sie vorher umgebracht wurden, werden nicht durch Kriminelle getötet, sondern durch Menschen, von denen sie geglaubt haben, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht. Bei den Tatorten wird es sich vorwiegend um die eigenen vier Wände handeln, die – rein statistisch – als der gefährlichste Ort der Welt gelten. Jedenfalls werden nirgendwo mehr Menschen getötet als in vertrauter Umgebung; ausgerechnet dort also, wo man sich am geborgensten und sichersten fühlt.
Nicht vernachlässigen darf man auch die versuchten Tötungsdelikte an nahezu 2000 weiteren Personen, die schwer verletzt und deshalb für den Rest ihres Lebens traumatisiert und/oder gezeichnet sein werden. Und noch ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Mörder vernichten nicht nur ihre Opfer; sie zerstören immer auch Familien – die des Opfers und die eigene. Ich kenne keinen Mörder, der bedacht hat, dass er auch die Seinen zu Opfern macht.
Mord ist die bewusste und gewollte Auslöschung menschlichen Lebens durch fremde Hand. Und zwar aus Motiven heraus, die in unserem Kulturkreis als verwerflich und verachtenswert gelten und damit als das Böseste des Bösen. Vergleiche mit Unfällen, Krankheiten, Suchtverhalten oder dem freiwilligen Ausscheiden aus dem Leben, die tausendfach mehr Menschenleben fordern, verbieten sich ebenso wie der Verweis auf die vielen gefährlichen Regionen dieser Erde, in denen wesentlich mehr Menschen ermordet werden als bei uns im sicheren Deutschland. Jeder Mord ist einer zu viel. Das sollte man sich schon aus Mitgefühl für die Hinterbliebenen bewusst machen, deren Trauer durch die Sinnlosigkeit der Tat noch verstärkt wird. Die bewundernswerte Haltung mancher Angehöriger, die keinen Hass empfinden und Mördern sogar vergeben, stellt die Ausnahme dar. Die meisten Betroffenen vermögen es nicht zu verzeihen. Sie wollen Sühne, um ihre Trauer aufarbeiten zu können. Das kann man bei fast allen Mordprozes sen miterleben, und das haben wir auch zu respektieren. Angehörige fordern in der Regel die höchstmögliche Bestrafung.
In Deutschland leben wir – ebenso wie unsere Nachbarn in Österreich oder der Schweiz – auf einer Insel der Glückseligen, was die Mordrate betrifft. Nur in Griechenland und Zypern ereignen sich noch weniger vorsätzliche Tötungsdelikte. Am anderen Ende der Skala innerhalb Europas findet man die baltischen Staaten mit zehnfach höheren Mordraten. Und wenn man über die europäischen Grenzen hinausschaut, wird es noch bedrückender. Hätten wir Verhältnisse wie beispielsweise in Mexiko, Kolumbien, Südafrika oder anderen vergleich baren Ländern, würden wir in Deutschland jährlich unvorstellbare 30 000 bis 50 000 Mordopfer zu beklagen haben.
Unter »Mordrate« versteht man die Zahl der vollendeten Tötungsdelikte pro 100 000 Einwohner. Durchschnittlich sind das bei uns etwa 1, 2 Fälle, europaweit sind es 2, 8 und weltweit 7, 1. Demnach werden nicht weniger als 500 000 Menschen pro Jahr auf diesem Planeten vorsätzlich getötet. Wobei Kriege oder kriegsähnliche Konflikte nicht einbezogen sind. Interessant ist auch, dass die vielen Tötungsdelikte in den weniger entwickelten Ländern vorwiegend der organisierten Drogen- und Bandenkriminalität geschuldet sind, während in Ländern wie dem unsrigen die sogenannten Beziehungstaten dominieren. Letztere finden ihren Nährboden weniger in den gesellschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnissen, sondern gründen für gewöhnlich auf individuellen Befindlichkeiten aller Couleur. Im Gegensatz zur allgemeinen Kriminalität hat sich die Zahl der Tötungsdelikte in den letzten 15 Jahren bundesweit nahezu halbiert. Worauf diese erfreuliche Entwicklung zurückzuführen sein könnte, versuche ich im Kapitel »Weniger Morde – bessere Menschen? « zu erläutern. So viel aber vorweg: Ob die Menschen »besser« geworden sind, sei
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