Unheilvolle Minuten (German Edition)
ob er zu weit gegangen war.
»Vielleicht habe ich nach ihr gegriffen, um ihren Sturz zu verhindern«, sagte Harry mit einer Stimme, die mit einem Mal sanft und vernünftig klang. »Vielleicht hat es ja nur so ausgesehen, als hätte ich sie gestoßen. Wie nennt man so etwas doch gleich, Buddy? Eine optische Täuschung.«
Obwohl seine Stimme so sanft klang, hatte sie einen Unterton, den Buddy nicht deuten konnte. Die Augen, mit denen er Buddy anblickte, waren dunkel und durchdringend. All das ließ Buddy innerlich erzittern. Ihm wurde klar, dass Harry ihm eine Botschaft mitteilte, ihm sagte, was er glauben sollte.
»Vielleicht hatten wir nicht mal vor, das arme Mädchen zu vergewaltigen«, fuhr Harry fort. »Wollten nur ein bisschen Spaß mit ihr haben. Außerdem hatte sie dort gar nichts zu suchen …«
Aber es war doch ihr Haus , hätte Buddy gern gesagt. Wir waren diejenigen, die dort nichts zu suchen hatten . Im Bann von Harrys Augen sagte er jedoch nichts. Hasste sich dafür, dass er nichts sagte, blieb aber weiterhin stumm.
»Unfälle passieren nun mal«, sagte Harry und beugte sich zu Buddy vor. Schaler Alkoholdunst machte seinen Atem schwer. »Kapiert, Buddy?«
Buddy nickte, ganz erpicht darauf, das Gespräch zu beenden. Erpicht darauf, dass Harry sich abwandte, erpicht darauf, von ihm wegzukommen. »Sag, dass du’s kapiert hast, Buddy.«
Buddy wurde sich der Stille auf der Rückbank bewusst, so als hielten Marty und Randy den Atem an. Oder warteten darauf, dass Harry ihnen das Zeichen gab, über ihn herzufallen.
»Ich hab’s kapiert«, sagte Buddy. Sein Verlangen nach einem Drink war jetzt schon so übermächtig, dass ihm die Hände zitterten. Er nahm sie aus dem Lichtschein heraus, außer Sichtweite.
Lächelnd wandte Harry sich ab und packte das Steuerrad, trat aufs Gas. Kies spritzte auf. Auf dem Rücksitz herrschte weiterhin Schweigen. Nach einer Weile sah Harry zu Buddy hinüber. Und lächelte. Ein verzeihendes Lächeln. Er schlug Buddy spielerisch auf die Schulter.
»Das hast du heute Abend gut gemacht, blood «, sagte er. Wieder zurück zum schwarzen Slang.
Himmel, dachte Buddy, wie bin ich da nur hineingeraten?
Aber natürlich kannte er die Antwort auf diese Frage.
Das Problem, ein elfjähriger Rächer zu sein, lag genau darin: elf Jahre alt und ein Rächer zu sein. Es wäre leichter gewesen, wenn er älter wäre, fünfzehn oder sechzehn. Oder alt genug für den Führerschein, so dass er leichter durch die Gegend sausen könnte. Er war auf sein Fahrrad angewiesen, ein klappriges Dreigangrad, das seine Mutter gebraucht gekauft hatte. Außerdem war er auf seine Findigkeit angewiesen und natürlich auf seine Geduld. Immer mit Geduld und Spucke, pflegte seine Mutter zu sagen, und sie musste es wissen, denn sie war der geduldigste Mensch der Welt. Waschen, putzen, staubwischen. Dauernd versäumte sie ihre Lieblingssendungen im Fernsehen, weil es für sie etwas anderes im Haus zu tun gab. Nähen, kochen, bügeln, putzen, staubwischen.
Der Rächer hatte andere Probleme. Zum Beispiel seine Schüchternheit. Wenn er der Rächer war und seine Vergeltungsmaßnahmen ausführte, war er nicht schüchtern. Aber in der Klasse und auf dem Schulhof fiel es ihm schwer, Kontakt zu knüpfen, mit den anderen unbefangen umzugehen. Wenn er im Unterricht ein Gedicht aufsagen sollte, wurde er knallrot, die Kehle wurde ihm eng und seine Stimme kam als lächerliches Piepsen heraus. Darüber musste Vaughn Masterson kichern. Vaughn Masterson verbrachte den ganzen Tag mit Gekicher. Wenn jemand eine Frage beantwortete oder zur Tafel ging oder in einer Klassenarbeit eine gute Note bekam. Dem Rächer wurde schließlich klar, dass Vaughn kicherte, weil er neidisch war. Und dumm. D-U-M-M. Mit Großbuchstaben. Wenn er konnte, schrieb er ab. Versuchte bei Klassenarbeiten verstohlene Blicke auf das Heft des Rächers zu werfen, weil der Rächer immer gute Noten erhielt, meistens Einsen.
Vaughn Masterson saß hinter ihm und knuffte ihn in den Rücken. Im Vergleich zu dem, was er mit anderen Kindern machte, war das noch milde. Den anderen nahm er die Schulbrote weg, zerquetschte sie und schmiss sie zu Boden. Der Rächer hätte Vaughn Masterson noch eine gewisse Achtung entgegengebracht, wenn er die gestohlenen Brote gegessen hätte, anstatt sie zu vernichten und die Kinder, denen er sie weggenommen hatte, zu erniedrigen. Zum Beispiel den kleinen Danny Davis, den Vaughn Tag für Tag aufs Neue quälte. Es machte ihm Spaß, ihm
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