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Unirdische Visionen

Unirdische Visionen

Titel: Unirdische Visionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Groff Conklin
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Periode, bevor er die Geschlechtsreife erlangte. Im Prinzip war es überraschend einfach. Sie verlängerten die juvenile Periode, schoben den Punkt der Reife immer weiter hinaus. Die Kurve zeigt kaum eine Steigung und erreicht niemals die Klimax. Sie wird asymptotisch, das heißt, sie nähert sich der Geschlechtsreife ganz, ganz langsam und kommt nie an, wenn sie sich auch noch so lange fortbewegt.
    »Wollen Sie damit ausdrücken, daß wir nicht geschlechtsreif sind?«
    »Richtig«, entgegnet er. »In jedem anderen Organismus ist Reife gleichbedeutend mit der ersten Phase des Verfalls. Wir werden nie reif, und deshalb sterben wir nicht. Wir sind die ewig Heranwachsenden des Universums. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen.
    »Der Preis«, wiederholt sie. Sie muß lachen. »Nicht reif …« Unbewußt wirft sie die Schultern zurück.
    »Haben Sie sich niemals überlegt, warum so selten Kinder geboren werden? Ohne Vorsichtsmaßnahmen hätte eine Frau früher jedes Jahr ein Kind bekommen. Jetzt geschieht es vielleicht einmal in einer Million Begegnungen; als Anomalie, Laune der Natur, und selbst dann kann die Frau das Kind nicht austragen. Oh, wir sehen reif aus! Das ist der Witz! Sie haben in uns ihren Traum verwirklicht; der Mensch als Krone der Schöpfung. Aber wir geben nur vor, erwachsen zu sein. Wir wissen alle nicht, was das ist.«
    »Außer Dio«, sagt Claire leise.
    »Er ist auf dem Weg dazu.«
    »Und Sie können es nicht zum Stillstand bringen? Sie wissen nicht, warum?«
    Benarra zieht die Schultern hoch. »Er stand unter schweren physischen und psychischen Belastungen. Irgendein Glied der Kette ist gerissen. Ich fürchte, er ist bald am Höhepunkt angelangt. Von da an geht es nur noch abwärts. Wir können ihn auch nicht mehr zurückziehen.«
    »Wie lange noch …?« fragt Claire mit erstickter Stimme.
    »Wir können das Maximum im Vergleich mit dem Lebensalter anderer Säugetiere schätzen. Aber Dio können zu viele Dinge zustoßen.« Er blickt auf die Abbildungen.
    »Nehmen Sie wirklich an, daß …?«
    »Natürlich. Letztes Mal, als Sie ihn sahen, hatte er schon eine Virusinfektion. Damit sind wir noch fertig geworden. Unsere Vorfahren nannten sie »Erkältung« und hielten sie für harmlos. Sie brachte Dio an den Rand seiner Kräfte. Nicht die Krankheit an sich, sondern der Schock.«
    Claire ist den Tränen nahe.
    »In das alles mußte ich Sie einweihen, oder es hat gar keinen Sinn, Dio zu sehen.«
    Claire versteht sich selbst nicht mehr. Nie war sie so vernarrt in einen Mann. Liebe ist Amüsement; sie macht das Leben prickelnd und bunt. Sie dauert nicht lange, und das weiß man im voraus. Aber solange sie dauert, ist sie hübsch. Liebe ist Abwechslung, Stimulans, und nicht dieser würgende Schmerz.
    »Er steckt voller Antibiotika«, unterbricht Benarra die Stille. »Wir hoffen, daß er von dem Schlimmsten verschont bleibt. Aber Altern ist ja die schlimmste Krankheit von allen.«
     
    *
     
    Dio sitzt an seiner Werkbank. Im Raum hat sich nichts verändert bis auf eine Statue. Die Statue eines gebeugten Mannes, der sich auf seinen Ellbogen stützt. Die Knie hat er gekreuzt, der Kopf sinkt ihm schwer auf die Schulter. Ein Hauch von Verfall und Kraftlosigkeit liegt über der mächtigen Gestalt. Die Statue ist extrem häßlich und doch kann Claire sich dem Bann dieser rohen, bezwingenden Häßlichkeit kaum entziehen.
    Dio preßt ihre Hand.
    »Claire, wie wundervoll, dich zu sehen. Setz dich, hier, und laß dich anschauen.«
    Seine Stimme klang kraftvoll, bestimmt. Die Augen kommen ihr zu lebhaft und übernatürlich glänzend vor. Er redet, bewegt und gibt sich wie jemand, der eine hochgradige Erregung gewaltsam unterdrückt. Sie ist erleichtert und doch alarmiert. Die Haut ist klar und gesund; die Lippen fest.
    Die Werkbank ist mit Zirkeln, Meßgeräten und Farbmustern übersät.
    »Ich habe ein paar Ideen für nächstes Jahr … etwas ganz Unerwartetes.«
    Er deutet auf die Heroengestalt.
    »Sehr – ungewöhnlich. Von dir?«
    »Die Kopie von einer Stereographie. Das Original stammt von Michelangelo. Es heißt »Abend«. Ich habe die Kopie selber gemacht.«
    Claire zieht verständnislos die Augenbrauen in die Höhe.
    »Ich meine, es ist nicht mit der Maschine gemacht. Mit Hammer und Meißel; mit diesen Händen, Claire.« Er zeigt ihr die Schwielen.
    »Es war ein Erlebnis. Ich habe etwas über Gesteinsstruktur herausgefunden. Für eine Maschine ist Granit ja wie Käse. Aber wenn man ihn bearbeitet, wehrt

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