Unirdische Visionen
jemals Haustiere gehabt? Eine Katze oder Wellensittiche?«
»Ich hatte Katzen und Vögel.«
»Was ist aus ihnen geworden?«
»Weiß ich nicht genau. Wahrscheinlich habe ich sie verloren. Sie wissen ja selbst, wie man solche Dinge verliert.«
»An einem Tag sind sie noch da, und am nächsten nicht mehr. Nicht wahr?«
»Ja, das stimmt. Warum kommen sie einem eigentlich abhanden?«
»Unsere Welt ist so ordentlich und durchorganisiert. Tote Körper werden in ihr nicht lange geduldet. Die Hausreinigung ist so programmiert, daß sie sie entfernt, wenn niemand im Zimmer ist.«
»Aber das passiert doch nicht – Menschen?«
»Nein?« Seine Lippen sind aufeinander gepreßt. Nach einem Augenblick fügt er hinzu: »Warum glauben Sie, schaute er so aus? Sie konnten ja feststellen, daß er es weiß. Er weiß es seit fünf Monaten.«
Er geleitet sie ins Vestibül.
»Aber ich möchte …«, sagt sie verzweifelt.
»Was? Ihn wieder lieben, als ob er normal wäre? Oder möchten Sie ihm helfen? Wenn Sie die Kraft dazu haben. Wenn …«
Sie macht einen zögernden Schritt.
»Denken Sie an die Ratte«, sagt er scharf.
Die beiden Bilder fließen ineinander, Dios aufgedunsenes Gesicht starrt aus dem klaffenden Rachen der Ratte.
Der harte, prüfende Blick des Mannes ist zu viel für sie. Mit einem trockenen Würgen im Hals stürzt sie zur Tür.
*
Die Jahre verlieren sich wie Blätter eines alten Adreßbuchs. Claire ist in Stambul, Winthur, Kumoto, BahiBlanc … Da sind die interkontinentalen Jahrhundertspiele in Campan. Da ist eine Liebesaffäre; kurz, aber intensiv. Sie dauert vier oder fünf Jahre. Der Name des Mannes ist Nord. Nun ist er mit einer anderen Frau nach Deya gegangen, und Claire war einen Monat lang untröstlich. Aber dann kommt die Opernsaison in Mailand und in Tuska. Danach trifft sie ein paar charmante Freunde, die ein Jahr in Papeete verbringen wollen.
Das Leben ist schön. Jeden Morgen erwacht sie erfrischt.
An einem strahlenden Frühlingstag sonnt sie sich in einer grünen Glaskugel, die zu drei Vierteln vom smaragdgrünen Ozean umspült ist. Kleine, goldene Fische schwimmen an das Glas, schimmern auf wie alte Münzen und gleiten wieder davon.
Vom Grund der Glaskugel klingt machtvolle Wagnermusik. Mit halbem Ohr lauscht sie den vertrauten Klängen, begleitet von unverständlichen, fremden Lauten. Ihr Gefährte konzentriert sich ganz auf die Musik. Verärgert stößt sie ihn mit dem Fuß an. »Ross, stell das gräßliche Ding ab!«
»Warum? Es ist Rheingold.«
»Weiß ich, aber ich kann kein Wort verstehen. Dieses Gebrabbel stört mich.«
»Millionen haben diese Sprache einst gesprochen«, sagt er betont. Ross ist Künstler, was ihn fast zum Spieler macht, aber er hat die schulmeisterhaften Angewohnheiten eines Studenten.
»Willst du tauchen?«, fragt sie.
»Ja, ich möchte ein paar von den Korallen.« Ross ist Bildhauer; kein sehr guter, Gott sei Dank; auch kein mit Leib und Seele seiner Kunst ergebener, denn dann wäre er als Gesellschafter kaum zu gebrauchen. Er hat sein Studio auf dem Meeresboden und verbringt einen Teil seiner Zeit damit, unheimlich drohende Gebilde, die stilisierte Tiefseekreaturen darstellen, zu verfertigen. Er drückt die Kontrollknöpfe, und die Kugel sinkt. Das Wasser schlägt über ihnen zusammen; wechselt von fadgelb zu tiefgrün.
Unter ihnen streckt das Korallenriff seine bleichen Skelettfinger aus. Die Kugel stoppt. Er öffnet die innere Tür. Mit einem tiefen Atemholen tritt er hinaus und schließt die durchsichtige Tür hinter sich. Claire sieht, wie das Wasser um seine Knöchel schießt. Als es brusthoch in der Luftschleuse steht, öffnet Ross die äußere Tür und platscht in einer quirlenden Wolke von Luftblasen ins Wasser.
Einige Augenblicke später verschwindet er fast in den sich aufwölbenden Sedimentablagerungen. Claire beobachtet ihn, mit einem undeutlichen Gefühl leiser Qual. Die Korallen sehen wie gebleichte Knochen aus.
In Gedanken versunken, hat sie die Kugel achtlos treiben lassen, so daß ihr Eingang fest von den Korallenstämmen versperrt ist. Ross, zwei oder drei rote Korallenbäumchen an die Brust gepreßt, zwängt sich zwischen die Korallen und die Kugel. Claire langt an die Kontrolle und manövriert sie ein paar Meter rückwärts. Der Weg wäre nun frei, aber Ross folgt nicht.
Er läßt die Korallen fallen und stemmt sich mit aller Kraft, um seinen Unterkörper herauszuziehen. Es gelingt ihm nicht. Er ist gefangen; ein Bein ist in
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