Unirdische Visionen
er sich. Stein hat Charakter, Claire; er kann widerspenstig oder schlüpfrig sein; er wirft dir Brocken ins Gesicht oder schlägt dir den Meißel aus der Hand. Stein kämpft.« Er ballt die Hand zur Faust und lacht ein fremdes, triumphierendes Lachen.
*
Als Claire spät in der Nacht ihre Räume betritt, streiten sich die widersprüchlichsten Empfindungen in ihr. Der Tag mit Dio verlief ganz anders, als sie sich vorgestellt hatte. Nicht ein einziges Mal hat er ihr Mitleid erregt. Eine Flamme brennt in ihm. Er schäumte über von Plänen. Eine archaische Vision von Gebäuden schwebt ihm für den neuen Sektor’ vor. Er möchte etwas Dauerhaftes; Mauerwerk, bei dem mit der Hand Stein auf Stein gesetzt wird; handgeschnitzte Hölzer; die Vorstellung ist erschreckend. Menschen währen; Dinge sollen vergänglich sein.
In ihren weiten, kühlen Räumen knistert leise die Luft. Claire geht ziellos auf und ab, läßt ihre Robe fallen und fühlt wieder die sehnsüchtige Schwere in den Gliedern. Ihr Mund ist wund von seinen Küssen. Ein Gefühl satter Erschöpfung lähmt sie, und doch treibt es sie ruhelos durch die Zimmer. Sie blickt in die tiefe Schwärze des Tauchbrunnens. Fallen ist ein Luxus wie das Flammenbad. Es birgt die Süße der Gefahr, obwohl die Gefahr unecht ist. Lächelnd tut sie den Schritt in die Tiefe. Die dunklen Wände stürzen an ihr vorbei. Sie unterdrückt den aufwallenden Widerstand ihres Willens, der sie in der freien Luft festhielte. Je näher sie dem Grund kommt, um so unerträglicher wird die Anstrengung. In letzter Minute entspannt sie sich; läßt sich wollüstig in den Sog des vermeintlichen Aufpralls stürzen. Sie kommt auf, schnellt sich wieder ab und schwebt langsam empor. Sie reckt sich; nun wird sie schlafen.
*
Erst kommen die guten Tage. Dio ist ein verwandelter Mensch; ein Dämon an Energie. Er fließt von Ideen und Projekten über. Er arbeitet, ohne sich eine Pause zu gönnen und vollbringt Unerhörtes. Sektor Zwanzig wird das Gespräch des Kontinents, der Welt. Dio will etwas Bleibendes schaffen; aber unzufrieden mit dem Erreichten, reißt er alles wieder nieder und baut aufs neue. Für eine Saison streben seine Gebäude himmelwärts; unglaublich schönes Filigranwerk aus Stein. Dann verschwindet alles Ornamentale; die Straßen erstrahlen in klassischer Einfachheit. Claire wartet auf die Wende des Zyklus, aber Dios Werk wird immer massiver und klobiger, der Stein immer dunkler. Die Leute murren, aber noch besitzt es den Reiz des Ungewöhnlichen.
Dio selbst wird schwer und imposant. Wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigt, drehen sich alle nach ihm um. Er ist der Blickfang, beherrscht jede Gesellschaft. Sein dröhnendes Gelächter reißt jeden Tisch zu Heiterkeitsausbrüchen hin.
Frauen hängen sich an ihn. Ein betrunkener Bacchant, so stolpert er mit ihnen davon. Claire schaut schweigend zu; nur sie weiß von der Niedergeschlagenheit, die ihn nachts überfällt; das hilflose Gestammel, die Tränen.
Eine Zeitlang treibt er auf dem Wellenkopf. Dann beginnt er, sich zu verändern. Schneller und immer schneller. Claire muß an zwei Wanderer denken, die eine kurze Strecke gemeinsam gehen und deren Wege sich nun endgültig trennen.
Plötzlich sind die schlechten Tage über ihnen. Dios Haut wird schlaff und großporig. Die Nase springt scharf hervor. Seine Gelenke verdicken sich knotig. Es kostet sie Überwindung, seine Hände anzuschauen. Diese dicken, plumpen Finger langen so besitzergreifend zu – und zittern dabei.
Claire leidet unter häufigen Weinkrämpfen. Sie ist abgemagert und findet keinen Schlaf mehr. Ihre Tage verbringt sie in der Bibliothek und versucht, diesen fremden Gedankengängen zu folgen, die eine Voraussetzung für den Umgang mit Dio geworden sind. Eines Abends schlendert sie verloren durch die Straßen. Sie sind ausgestorben. Nur ein paar Kilometer weiter weg, in Sektor Neunzehn, herrscht pulsierendes Leben. Aber hier ist alles grau in grau. Die Gebäude wirken wie von der See abgeschliffene Steine.
Die große Glocke von Dios letzter Narrheit, einem Bau, den er »Kathedrale« nennt, beginnt mit ihrem überlauten Geläute. Ein weites Gewölbe ohne Schönheit und Zweckmäßigkeit. Keine Menschenseele besucht sie. Nicht einmal Dio. Eine Leere, die darauf wartet, gefüllt zu werden.
Auf dem Rückweg sieht sie zwei schmale Gestalten, Hand in Hand. Ein Junge und ein Mädchen mit gelbem Haar. Die Erinnerung an jenen Nachmittag steigt in Claire
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