Unmoralisch
dass ich wüsste.«
»Sie haben sich also nicht bedroht gefühlt?«
»Nein, absolut nicht.«
»Ist allgemein bekannt, was Sie bei der Bank verdienen?«
Graeme runzelte die Stirn. »Nun ja, das ist sicher kein Geheimnis. Ich muss der Finanzbehörde mein Einkommen offen legen, es gibt also Aufzeichnungen darüber. Aber es ist nicht so spektakulär, dass die Zeitungen darüber berichten würden.«
»Und Sie haben auch keine Nachrichten erhalten, die in irgendeiner Form darauf hinweisen würden, dass Rachel entführt wurde?«
»Nein, nichts dergleichen«, sagte Graeme.
Stride klappte sein Notizbuch zu. »Ich denke, das ist für den Augenblick alles. Natürlich werde ich im Lauf der Ermittlungen noch öfter mit Ihnen reden müssen. Und ich werde mich mit Mr Gale in Verbindung setzen.«
Emily öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Sie wollte offensichtlich etwas sagen.
»Ja, Mrs Stoner?«, fragte Stride.
»Es ist nur … nun ja, es gibt einen Grund, warum wir uns solche Sorgen machen. Darum habe ich auch darauf bestanden, dass Graeme Kyle anruft.«
»Kerry McGrath«, murmelte Dayton.
»Sie hat doch hier ganz in der Nähe gewohnt!«, rief Emily. »Und sie war auf derselben Schule.«
Stride wartete, bis Emily ihn wieder ansah, dann schaute er ihr so sanft wie nur möglich in die Augen. »Ich will Ihnen nichts vormachen. Natürlich werden wir nach Verbindungen zu Kerrys Verschwinden suchen. Es wäre fahrlässig, wenn wir das nicht tun würden. Aber nur, weil es oberflächliche Ähnlichkeiten gibt, heißt das noch lange nicht, dass Rachels Verschwinden etwas mit Kerry zu tun haben muss.«
Emily schniefte hörbar. Sie nickte, aber in ihren Augen glänzten Tränen.
»Wenn Sie Fragen haben, rufen Sie mich bitte jederzeit an«, sagte Stride. Er zog eine Geschäftskarte aus der Jackentasche und legte sie auf den Sekretär.
Dayton Tenby erhob sich von seinem Platz am Kamin und lächelte Stride an. »Darf ich Sie hinausbegleiten?«
Der Pfarrer führte Stride durch das Haus zur Eingangstür. Er war ein nervöser, verweichlichter Mann. Die teure Ausstattung des Stoner’schen Haushalts schien ihn einzuschüchtern, und er trat so vorsichtig auf, als könnten seine abgetragenen braunen Halbschuhe schmutzige Spuren hinterlassen. Er war nicht besonders groß, etwa eins fünfundsiebzig, und hatte ein schmales Kinn, eng beieinander stehende braune Knopfäuglein und eine spitze Nase. Stride schätzte ihn als ein Überbleibsel aus Emilys früherem Leben ein, aus der Epoche v. Gr. – vor Graeme.
Dayton rieb sich das Kinn und warf einen neugierigen Blick nach draußen, auf die Lichter und die vielen Menschen, die dort standen. »Sie sind wie die Aasgeier, nicht wahr?«, sinnierte er.
»Manchmal, ja. Aber sie können auch nützlich sein.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie heute hier waren, Lieutenant. Rachel ist ein kompliziertes junges Mädchen, und ich würde wirklich nicht wollen, dass ihr etwas zustößt.«
»Wie lange kennen Sie sie schon?«, fragte Stride.
»Von Kindheit an.«
Stride nickte. V. Gr., dachte er. »Und wann ist sie so schwierig geworden?«
Dayton seufzte. »Emily hat es ja bereits gesagt: nach dem Tod ihres Vaters. Rachel hat Tommy angebetet. Sie konnte den Verlust nicht verkraften, und ich denke, sie hat all ihren Zorn und ihre Trauer gegen ihre Mutter gerichtet.«
»Wie lange ist das jetzt her?«
Dayton spitzte die Lippen und starrte an die hohe Decke hinauf, während er nachdachte. »Ich glaube, Rachel war acht, als er starb, also muss es vor etwa neun Jahren gewesen sein.«
»Sagen Sie, Pater, was glauben Sie? Was ist passiert? Ist es möglich, dass Rachel allein fortgegangen ist? Dass sie ausgerissen ist?«
Dayton schien erfüllt von göttlicher Überzeugung. »Vielleicht ist das ja nur Wunschdenken, aber ich will Ihnen sagen, was ich glaube. Ich glaube, am Ende werden Sie feststellen, dass sie noch irgendwo da draußen ist und uns alle auslacht.«
4
Emily stürzte den letzten Schluck Brandy hinunter und erhob sich dann schwerfällig aus dem Lehnsessel. Als Dayton ins Zimmer zurückkam, hielt sie ihm ihr leeres Glas entgegen. »Ich brauch noch einen.«
Dayton nahm ihr das Glas aus der Hand und ging ins Wohnzimmer, um es wieder zu füllen. Emily sah ihm nach, dann sagte sie zu Graeme, ohne ihn dabei anzusehen: »Tut mir Leid, dass ich nicht angerufen habe.«
»Das macht doch nichts. Wie geht es Janie ?«
»Gut«, sagte Emily. »Ich wollte
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