Unmoralisch
»Wer weiß schon, warum sich zwei Menschen zueinander hingezogen fühlen? Emily ist eine hinreißende Frau, und Rachel hat ihre Schönheit nicht nur von Tommy geerbt, auch wenn Emily das immer behauptet. Außerdem fühlen sich viele Männer zu Frauen hingezogen, die schutzbedürftig wirken. Vielleicht war das ja auch bei Graeme der Fall.«
Stride zweifelte daran. Es sah Graeme so gar nicht ähnlich. »Wie haben die beiden sich kennen gelernt?«, fragte er.
»Nun, nach dem, was Emily erzählt, muss das ganz romantisch gewesen sein«, erwiderte Dayton. Seine Stimme klang plötzlich lauter und lebhafter. »Graeme war seit etwa einem Jahr bei der Bank, und wie ich höre, hielten ihn fast alle weiblichen Angestellten für einen äußerst begehrenswerten Junggesellen. Er war attraktiv, sehr selbstbewusst und hatte eine hoch gestellte Position bei der Bank. Was will man da noch mehr? Er schien sich allerdings für keine zu interessieren. Emily hat ihn mir gegenüber ein paar Mal erwähnt, aber sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass er sie auch nur anschauen würde, und hat auch nie versucht, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Sie war eine der wenigen, die das nicht versucht haben. Vielleicht hat ihn das ja für sie eingenommen. Vielleicht hat er geglaubt, sie wäre als Einzige immun gegen seinen Charme. Jedenfalls hat er sie eines Tages nach der Arbeit auf dem Parkplatz angesprochen. Er hat sie gefragt, ob sie noch etwas mit ihm trinken will. Offenbar hat er sich schon eine ganze Weile für sie interessiert und nicht den Mut gehabt, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgeht. Lustig, nicht wahr? Wie das Leben so spielt.«
»Tja«, sagte Stride. Er sah Maggie an, die mit gerunzelter Stirn dasaß.
»Kurze Zeit später haben sie geheiratet«, fuhr Dayton fort. »Eine stürmische Romanze.«
Maggie schüttelte ungläubig den Kopf. »Und ein paar Jahre danach ist es schon vorbei mit der Leidenschaft?«
»So was kommt vor«, sagte Dayton. »Ich erlebe das öfter, als mir lieb ist.«
Stride nickte vor sich hin. »Tut mir Leid, Pater, aber eines verstehe ich noch nicht. Auch wenn Graeme Emily angesprochen hat, kann ich mir immer noch nicht recht vorstellen, dass sie so viel gemeinsam hatten, dass er sich gleich auf eine Ehe einlässt. Das klingt jetzt vielleicht unsensibel … aber hat Emily ihm vielleicht eine Falle gestellt?«
Dayton biss sich auf die Lippe und blickte unbehaglich drein. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Maggie lächelte. »Eine Falle eben. Wissen Sie, Frauen sind richtig gut darin, Männer dazu zu bringen zu tun, was sie wollen. Stride hier macht alles, was ich ihm sage. Man muss das nur können.«
Dayton lächelte angestrengt. »Nun, ich glaube nicht, dass Emily irgendwelche Strategien verfolgt hat. Dafür war sie viel zu verblendet. Wie ich bereits sagte, der Gedanke an das Geld hat sie wohl übersehen lassen, dass es keine wahre Leidenschaft war. Aber ich glaube nicht, dass sie ihm bewusst etwas vorgemacht hat.«
»Pater, wir müssen die Wahrheit wissen«, sagte Stride. »Da gab es doch offensichtlich noch etwas.«
Dayton nickte. »Ja, das ist mir klar. Aber es hat nichts mit Rachel zu tun, deshalb scheint es mir nicht notwendig, banale kleine Einzelheiten hervorzuzerren.«
»Wir können das Rätsel nicht lösen, wenn uns Informationen fehlen«, sagte Maggie. »So einfach ist das leider.«
»Ja, wahrscheinlich haben Sie Recht.« Dayton wischte sich das schweißnasse Gesicht. »Nun, wissen Sie, als die beiden ein paar Wochen zusammen waren, hat Emily festgestellt, dass sie schwanger ist. Das war der eigentliche Anlass für die Heirat.«
»Da hat Graeme sich sicher gefreut«, murmelte Stride vor sich hin.
»Nicht allzu sehr«, sagte Dayton. »Er wollte, dass sie abtreibt. Aber sie hat sich geweigert. Er hätte das Ganze wohl am liebsten ungeschehen gemacht, aber in einer Stadt wie Duluth kann man in seiner Position keinen öffentlichen Skandal riskieren. Also hat er sie geheiratet.«
»Und das Baby?«, fragte Maggie.
»Eine Fehlgeburt im sechsten Monat. Emily wäre fast dabei gestorben.«
»Und Graeme hat nicht versucht, eine freundschaftliche Trennung herbeizuführen?«, fragte Stride.
»Nein«, sagte Dayton. »Offenbar hatte er sich mit der Ehe abgefunden. Er wird sich wohl auch überlegt haben, dass eine Scheidung für ihn sehr teuer geworden wäre. Also hat er alles so gelassen, wie es war. Aber er hat nie versucht, irgendwem weiszumachen, dass ihm etwas daran liegt. Für ihn war es
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