Unmoralisch
Sie beugte sich vor und drückte die Lippen auf Lissas Stirn.
Dann zog sie die Decke wieder nach oben und steckte sie ihr um die Schultern fest. Dabei fiel etwas aus dem Bett und landete mit einem leisen Geräusch auf dem Teppich. Heather schaute zu Boden und sah im dämmrigen Licht etwas glitzern. Erstaunt bückte sie sich und hob es auf. Ein goldenes Armband.
Heather hatte es nicht für Lissa gekauft und konnte sich auch nicht erinnern, es schon einmal gesehen zu haben. Sie legte die Stirn in Falten, fragte sich, wo Lissa es wohl herhatte, und wunderte sich gleichzeitig, dass sie ihr nichts davon erzählt hatte. Wie sie Lissa kannte, konnte das nur bedeuten, dass sie es auf verbotenen Wegen bekommen hatte.
Sie ging aus dem Zimmer und nahm das Armband mit.
In ihrem Zimmer legte sie es auf die altersschwache Kommode mit den fünf Schubladen und betrachtete es einen Augenblick nachdenklich. Dann zuckte sie die Achseln und wandte sich ab. Sie knöpfte ihr rotkariertes Hemd auf und warf es in den Wäschekorb. Einen BH trug sie nicht. Sie zog sich die Jeans aus, behielt Höschen und Strümpfe an und streifte rasch das Nachthemd über.
Sie zog ihre sechs Decken zurecht, kroch ins Bett, schaltete das Radio ein und suchte nach einem Musiksender. Sie erwischte das Ende der stündlichen Nachrichten und hörte nur mit halbem Ohr zu, weil sie das alles viel zu bedrückend fand. Im Süden der Stadt war ein Farmhaus abgebrannt, eine alte Frau war dabei zu Tode gekommen. Das Mädchen aus Duluth, Rachel, wurde immer noch vermisst. Die Trojans hatten ein wichtiges Spiel verloren.
Heather betrachtete die gerahmten Fotos, die an der Wand neben ihrem Bett hingen. Erst kürzlich hatte sie einen Abzug ihrer Aufnahmen von der alten Scheune dazugehängt. Die schwindende Sonne, die gerade noch die Baumwipfel hinter ihr überstrahlt hatte, warf Schatten auf die baufälligen Wände. Totes Laub lag wie ein Teppich auf dem Boden verstreut. Der Himmel am Horizont war stahlgrau. Sie hatte eine Aufnahme machen wollen, die Vergänglichkeit ausdrückte, und das war ihr auch gelungen.
Während Heather das Foto betrachtete, fiel es ihr plötzlich wieder ein.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie Lissa um die Ecke der Scheune kommen, voller Aufregung, weil sie etwas gefunden hatte. Heather war abgelenkt gewesen, sie hatte sich mit ihrer Kamera beschäftigt. Aber trotzdem wusste sie noch, dass Lissa ihr ein goldenes Armband gezeigt hatte, und sie erinnerte sich auch, ihr gesagt zu haben, sie solle es dorthin zurücklegen, wo sie es gefunden hatte. Und jetzt, ein paar Wochen später, lag plötzlich ein goldenes Armband in Lissas Bett.
»Hinterlistiges kleines Biest«, murmelte Heather verärgert vor sich hin.
Seufzend stand sie wieder auf und nahm das Armband von der Kommode. Es war nicht besonders schwer und sah nicht teuer aus. Wahrscheinlich hatte ein Mädchen von der High School es bei einem Stelldichein hinter der Scheune verloren.
Heather betrachtete das Armband genauer und sah, dass Buchstaben eingraviert waren.
TR
T. liebt R., dachte sie. Na dann. Sie vermutete, dass R. ein hübsches Mädchen aus der Abschlussklasse war und T. ein Footballspieler, der ein Schmuckstück für den besten Weg hielt, um dem Mädchen an die Wäsche zu gehen. Heather lächelte. Sie legte das Armband auf den Nachttisch und machte das Licht aus.
Sie versuchte zu schlafen, doch stattdessen wälzte sie sich unruhig im Dunkeln herum. Noch vor ein paar Minuten hatte sie kaum die Augen offen halten können, aber jetzt war sie hellwach. Ein Wirrwarr aus unzusammenhängenden Gedanken wanderte ihr durch den Kopf. Die High School. Ein hübsches Mädchen bei einem Stelldichein hinter der Scheune. Eine alte Frau, die in den Flammen starb. Footballspiele. Goldene Armbänder. Junge Liebe. Junge Lust.
Initialen. Sie sah sie wieder vor sich.
Plötzlich riss Heather die Augen auf und starrte ins dunkle Zimmer hinein, ohne etwas zu sehen. Trotz der vielen Decken kroch ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie tastete nach der Nachttischlampe und blinzelte, als es plötzlich hell im Zimmer wurde.
Sie betrachtete das Armband, wagte aber nicht, es anzufassen.
T. liebt R., dachte sie noch einmal.
R.
6
Stride stand auf der Schotterstraße vor dem abgesperrten Gebiet rund um die Scheune. Die Schneedecke war nur noch eine glitschige graue Masse, nachdem den ganzen Tag Polizeiwagen gekommen und weggefahren waren. Er bohrte die Absätze seiner Stiefel hinein und stemmte den
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