Unnatural History
den Gehstock fest umklammert und die oberen Stockwerke der großen Apartmenthäuser vor seinen Augen, die draußen an den Fenstern der Abteile vorbeirasten, legte er die Hand auf den Griff der nächsten Einstiegstür und verschnaufte einen Moment. Direkt vor sich, inmitten der anderen Passagiere, erkannte er Kanes unverwechselbares Profil.
Ulysses drückte den Knauf beherzt nach unten, entschlossen, seinen alten Feind zu fassen. Er platzte in den Waggon und rief: »Ergreift diesen Mann!«
Kanes Kopf fuhr herum, ihre Blicke trafen sich. Ulysses erkannte puren Hass im Blick des Kontrahenten. Kane reagierte sofort und schubste sich einen Weg durch das Gedränge frei.
»Haltet ihn auf!«, schrie Ulysses.
Mit einem Mal flackerte sein sechster Sinn auf, und er duckte sich in dem Moment, als Kane sich mit einer Pistole in der Hand herumdrehte. Der Schuss hallte entsetzlich laut durch das dicht gedrängte Abteil. Wie ein Mann wichen die Passagiere zurück, als das Glas hinter Ulysses in kleine Stücke zersprang.
Sofort rempelte sich Kane weiter durch den Wagen, nun mit deutlich weniger Widerstand, vorbei an wimmernden Menschen, die sich eilten, ihm aus dem Weg zu gehen. Nicht einer von ihnen versuchte, ihn aufzuhalten. Das große Volk der Briten , dachte Ulysses, verlässlich wie eh und je .
Seine eigene Waffe befand sich in ihrem Holster unter seiner Jacke, doch er wagte nicht, sie in dem vollen Zug einzusetzen. Es war eher zweifelhaft, dass er einen gezielten Schuss würde abgeben können, und das kontinuierliche Rütteln der Bahn, die über die Hochbahnschienen raste, schloss eine solch tollkühne Unternehmung gänzlich aus. Es war eine Sache, als gefühlloser Revolutionär mit terroristischer Neigung achtlos unschuldige Bürger niederzuschießen, doch es war eine völlig andere, wenn man als Agent im Auftrag des Thrones von Magna Britannia handelte. Abgesehen davon wollte er es so kurz und schmerzlos wie möglich hinter sich bringen. Kane war schon einmal entkommen. Ulysses wollte ihm das nicht noch ein zweites Mal durchgehen lassen.
Obwohl die verängstigten Passagiere ihr Äußerstes taten, Kane auszuweichen, verlangsamten sie dennoch sein Vorankommen und Ulysses holte auf. Zur selben Zeit, als er die mittlere Verbindungstür erreichte, war Kane bereits am Übergang zum nächsten Wagen angelangt. Ulysses spielte kurz mit dem Gedanken, die Notbremse zu betätigen, um den Zug anzuhalten, entschied dann jedoch, dass eine solche Aktion wohl eher die Flucht des Terroristen begünstigen würde. Dann war Kane verschwunden – jedoch nicht im nächsten Wagen, sondern auf der mit der Waggonwand verschraubten Leiter nach oben, hinauf auf das Dach.
Ulysses eilte auf die Tür zu, die heftig auf und zu schlug, als der Zug erneut Geschwindigkeit aufnahm und durch die Upper City jagte. Wenige Sekunden später kletterte Ulysses ebenfalls die Leiter des schwankenden Waggons hinauf. Der genagelte Absatz eines Schuhs tauchte über der obersten Sprosse auf, direkt über Ulysses Fingern. Er spannte sich auf einer Sprosse darunter an, stieß sich kräftig mit beiden Füßen ab, um mit einem sportlichen Sprung nach oben zu schnellen.
Eine Hand noch immer an der Leiter, schwang Ulysses seinen Gehstock nach Kanes Beinen, doch sein voreiliger Hieb brachte ihn für einen Moment selbst aus dem Gleichgewicht. Als der Zug über ein Verbindungsstück in den Gleisen holperte, erfasste der Ebenholzstock sein Ziel. Kane fiel zurück und landete hart auf dem Dach des Waggons. Das war alles, was Ulysses gebraucht hatte, um nun selbst auf das Dach zu steigen und seiner gefährlichen Lage zu entkommen.
Er verschaffte sich einen festen Stand, als Kane nach hinten weg und außer Reichweite rutschte. Ulysses befand sich nun zwischen Kane und der Spitze des Zuges. Dicker Rauch aus dem Schornstein der Lok peitschte über das Wagendach und umkreiste sie wie Wolkenfetzen.
»Ich hätte ahnen sollen, dass du den Tod überlisten würdest. Ich weiß nur nicht, wie du das angestellt hast«, sagte Ulysses, mit dem Kinn auf die lange Narbe zeigend, die Kanes Gesicht entzwei teilte.
»Du wirst mich niemals zu Fall bringen«, spottete der Revolutionär, wobei die Narbe seine Lippen zu einem grotesken Lächeln verzerrte. Kanes gebildeter Akzent stand in einem seltsamen Widerspruch zu seiner Erscheinung und seiner aufrührerischen Politik.
»Dieses kleine Debakel, in dem wir uns gerade verheddern, trägt doch schon wieder alle Anzeichen einer Kane’schen
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