Unnatural History
auf, ihre Augen waren vom Rand ihres Sonnenschirms verdunkelt. »Es sind keine guten Neuigkeiten, nicht wahr?«
»Nein, ich befürchte, eher nicht.«
Genevièves Kinnlade fiel nach unten und das Schluchzen, das aus ihrem Mund drang, kam aus tiefstem Herzen.
»Es tut mir wirklich sehr leid, Geneviève. Hätte es etwas gegeben, das ich hätte tun können, ich hätte es getan, glauben Sie mir. Wir fanden ihn im …«
»Nein, sagen Sie es nicht. Ich will es nicht wissen. Mein Vater starb in dieser Nacht im Museum, in der Nacht des Raubes. Zu was auch immer er später geworden ist, es war nicht mehr mein Vater. Nicht mehr.« Dann brach sie in Tränen aus. Ulysses hielt sie fest in seinen Armen, und Geneviève schluchzte herzzerreißend in das Revers seines Mantels.
Letzten Endes war es doch weniger dramatisch gewesen, als er befürchtet hatte. Immerhin, wie sie ihm selbst einst gesagt hatte, war er ein Kämpfer für die Wahrheit, und wie schrecklich diese auch sein mochte, man solle sich ihrer gewahr sein und ihr ins Gesicht sehen. Keiner von beiden scherte sich darum, dass die anderen Spaziergänger sie interessiert beäugten. Für sie zählte nur ihr geteilter Schmerz. Für Geneviève war es die Trauer um den Verlust eines Vaters, den sie nie wirklich gekannt hatte, für Ulysses die Gewissheit, dass er dafür verantwortlich war, ihre steinerweichende Traurigkeit hervorgerufen zu haben.
Schließlich machte sie sich von ihm los und blinzelte die Tränen aus ihren geröteten, verschwollenen Augen. Sie konnte ihm nicht ins Gesicht sehen.
»Hier«, sagte er, schob eine Hand in seinen Mantel und holte etwas aus seiner Tasche hervor. »Das ist für Sie.«
Er öffnete seine Hand. Darin lag der Anhänger, den Geneviève ihrem Vater einst zum Geschenk gemacht hatte, wie sie Ulysses bereits bei ihrem Kennenlernen erzählte. Ein freudiges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und durchbrach ihre von Sorge verzerrten Gesichtszüge. Ihre Unterlippe zitterte leicht, als sie das silberne Objekt an sich nahm, das inzwischen gereinigt und vom Dreck befreit war, der es auf seiner Reise durch die Abwässer befleckt hatte. Sanft legte sie eine Hand an Ulysses’ Gesicht und liebkoste seine Wange mit ihren feingliedrigen Fingern.
»Dankeschön«, flüsterte sie.
Und dann, noch ehe Ulysses es überhaupt realisieren konnte, waren sie sich näher als je zuvor, ihre Lippen nur wenige Zentimeter von den seinen entfernt, ihr Atem warm auf seinem Gesicht. Die Luft war berauscht von dem Duft der Jasminblüte, der Boden unter ihren Füßen gesprenkelt mit goldenen Lichtflecken, die trotz des stets präsenten Smogs, der über der Stadt lag, durch das Blätterdach der Bäume tröpfelten.
Er hielt den Augenblick in seinem Kopf fest, diesen perfekten Moment, an dem nichts zählte, außer der Vorfreude auf einen Kuss.
»Dieses Mal ist kein gesprengter Bahnsteig in der Nähe, nicht? Oder wilde Dinosaurier?«
Geneviève lächelte, ihre von Tränen befleckten Wangen röteten sich und sie zog ihn näher an sich heran. »Nun, Mr. Quicksilver«, schalt sie ihn scherzhaft, »geben Sie immer dem Vergnügen Vorrang vor der Arbeit?«
Dann küssten sie sich.
Kapitel 16
Ein Hauch von Oper
»Und? Hast du vor, diese Frau wiederzusehen?«, fragte ihn Bartholomew und schnitt dabei enthusiastisch an seinem Fasan herum, was zweifellos implizierte, dass es wohl das erste annehmbare Mahl war, das er in letzter Zeit hatte genießen dürfen.
»Ich weiß es noch nicht«, grübelte Ulysses und sah von seinem Teller auf. »Natürlich würde ich gern, letztendlich würde ich sagen, ich tue es, vielmehr schätze ich jedoch, dass der Ball, wie man so schön sagt, in ihrem Feld liegt. Aber jetzt genug von mir. Wie ist es dir ergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, Bruderherz?« Die letzte bissige Bemerkung klang nicht ganz nach einer aufrichtigen Erkundigung nach dem Befinden seines Bruders, obwohl der Wortlaut dies zweifellos vermuten ließ.
»Ach das «, Bartholomews Gesicht bekam eine ungesunde Rötung.
»Und was wäre wohl das ?«
»Pass auf, mach es mir nicht schwerer, als es bereits ist.«
»Warum nicht? Du bist ganz sicher bereits dabei, es noch ein wenig schwerer für mich zu machen, alles in allem.«
»Schau, glaub mir einfach. Ich wusste nicht, dass du noch am Leben bist.«
»Offensichtlich.«
Für eine Minute herrschte absolute Stille zwischen ihnen.
»Dann fahre fort … mit deiner Rechtfertigung, meine ich.«
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