Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
bewaffneten Streitmacht unter der Kontrolle der ganzen Welt ermöglicht. Aber diese Militärmacht darf ebenso wenig wie die Polizei einer Gemeinde zum Selbstzweck werden. Sie ist nur ein Mittel zum Gedeihen eines vom Recht beherrschten Gesellschaftssystems, in dem die Macht nicht mehr das Vorrecht einzelner Personen oder Nationen ist, sondern nur von einer neutralen Autorität vorher niedergelegten Rechtsnormen ausgeübt wird. Es besteht die Hoffnung, dass nicht verantwortungslose Gewalt, sondern das Recht die Beziehungen der Nationen noch in diesem Jahrhundert beherrschen wird. Wenn diese Hoffnung sich nicht verwirklicht, stehen wir vor einem ungeheuren Unglück; wenn sie sich verwirklicht, wird die Welt weitaus besser sein als zu irgendeinem der bisherigen Geschichte der Menschheit.
DIE TIEFEREN BEWEGGRÜNDE DER PHILOSOPHIE
1.
N ach E H. Bradley »besteht die Metaphysik im Auffinden fadenscheiniger Gründe für das, was wir instinktiv glauben«.
Dies beißende Wort nimmt sich seltsam aus in der Einleitung zu einem langen Buch voll ernster und selbst salbungsvoller Metaphysik, das nach viel schwieriger Argumentation zu folgendem endgültigem Schluss kommt: »Außerhalb des Geistes gibt es keine wie immer geartete Wirklichkeit und kann es keine geben; je geistiger etwas ist, desto mehr ist es wahrhaft wirklich.« Ein seltener Augenblick von Selbsterkenntnis muss dem Verfasser den einleitenden Aphorismus eingegeben haben, der ihm durch seine halb humoristische Form erträglich wurde; aber bei seiner ganzen übrigen Arbeit ist er »dem Instinkt zur Auffindung fadenscheiniger Gründe« erlegen. Wo es ihm ernst war, war er ein Sophist und typischer Philosoph; wo er scherzte, hatte er Einsicht und sprach die unphilosophische Wahrheit.
Man hat die Philosophie definiert als einen »ungewöhnlich hartnäckigen Versuch, klar zu denken«; ich möchte sie lieber als einen »ungewöhnlich geistreichen Versuch, irrig zu denken« bezeichnen. Philosophische Veranlagung ist selten, weil sie zwei einigermaßen widerstreitende Charakterzüge vereinigen muss: einerseits den aufrichtigen Wunsch, an irgendeine allgemeine Theorie des Universums oder des menschlichen Lebens zu glauben, und andererseits die Unfähigkeit, sich dabei zufriedenzugeben, außer wo anscheinend Verstandesgründe dafür sprechen. Je tiefer der Philosoph, desto verwickelter und spitzfindiger müssen seine Trugschlüsse sein, um in ihm den gewünschten Zustand geistiger Ergebung hervorzurufen. Deshalb ist die Philosophie so unverständlich.
Dem gänzlich Unintellektuellen sagen allgemeine Doktrinen gar nichts; für den Naturwissenschaftler sind sie Hypothesen, die experimentell erprobt werden müssen; dem Philosophen hingegen sind sie geistige Gewohnheiten, die irgendwie gerechtfertigt werden müssen, wenn er das Leben erträglich finden soll. Der typische Philosoph findet gewisse Überzeugungen für das Gefühlsleben unerlässlich, für den Verstand aber schwer annehmbar; daher bahnt er sich seinen Weg durch ganze Ketten von Schlüssen, bei deren Verfolgung früher oder später sich in einem unachtsamen Augenblick ein Trugschluss unbemerkt einschleichen kann. Nach diesem ersten Fehltritt führt ihn seine geistige Regsamkeit rasch mitten in den Sumpf der Unwahrheit.
Descartes, der Vater der modernen Philosophie, ist ein vollkommenes Beispiel für diese geistige Veranlagung. Er versichert uns, er wäre nie darauf verfallen, seine Philosophie zu konstruieren, hätte er nur einen einzigen Lehrer gehabt, denn dann hätte er geglaubt, was man ihm sagte; aber als er fand, dass seine Professoren nicht miteinander übereinstimmten, sah er sich zu dem Schluss gezwungen, dass keine der bestehenden Lehren Gewissheit habe.
Beseelt von dem leidenschaftlichen Drang nach Gewissheit, machte er sich ans Werk, einen neuen Weg zu ersinnen, auf dem er sie erlangen konnte. Der erste Schritt war sein Entschluss, alles abzulehnen, was er nur irgendwie bezweifeln konnte. Menschen und Dinge des Alltags – seine Bekannten, die Straßen, Sonne und Mond und so weiter – konnten Trugbilder sein, denn er sah Ähnliches in Träumen und konnte nicht sicher sein, dass er nicht in einem steten Traum befangen war. Mathematische Demonstrationen konnten falsch sein, da Mathematiker manchmal Fehler machten. Aber er konnte beim besten Willen nicht an seiner eigenen Existenz zweifeln, denn wenn er nicht existierte, so konnte er ja nicht zweifeln.
Daher hatte er hier endlich eine
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