Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
unzweifelhafte Grundlage, auf der er die Gedankengebäude wieder errichten konnte, die sein früherer Skeptizismus niedergerissen hatte.
So weit, so gut. Aber von diesem Augenblick an verliert sein Werk alle kritische Schärfe, und er akzeptiert eine Reihe scholastischer Maximen, für die, abgesehen von der Tradition der Schulen, nichts spricht. Er glaubt, wie er sagt, dass er existiere, denn er sieht das sehr klar und sehr deutlich; daraus schließt er, »dass ich es als allgemeine Regel betrachten darf, dass die Dinge, die wir sehr klar und sehr deutlich erfassen, alle wahr sind«. Dann fängt er an, alles Mögliche »sehr klar und sehr deutlich zu sehen«, zum Beispiel dass eine Wirkung nicht vollkommener sein kann, als ihre Ursache. Da er sich von Gott – d. h. einem vollkommeneren Wesen als er selbst – eine Vorstellung machen kann, muss diese Vorstellung eine außer ihm liegende Ursache haben, die nur Gott sein kann; daher existiert Gott. Da nun Gott gut ist, wird er Descartes nicht ständig an der Nase herumführen; daher müssen die Menschen und Dinge, die Descartes im wachen Zustand sieht, wirklich existieren. Und so geht es weiter. Alle geistige Vorsicht wird in den Wind geschlagen, und es könnte scheinen, dass sein anfänglicher Skeptizismus nur rhetorischer Natur war, obwohl ich nicht glaube, dass dies psychologisch zuträfe. Descartes' anfänglicher Zweifel war meines Erachtens so echt wie der eines Mannes, der von seinem Wege abgekommen ist; sollte aber ebenso früh als möglich der Gewissheit weichen.
An einem Menschen von scharfem Verstand zeugen trügerische Argumente von Voreingenommenheit. Solange Descartes skeptisch ist, ist seine Beweisführung allerorten scharf und zwingend, und selbst sein erster konstruktiver Schritt, der Beweis seiner eigenen Existenz, hat viel für sich. Aber alles Folgende ist unzusammenhängend, nachlässig und übereilt und lässt so den entstellenden Einfluss des eigenen Wunsches erkennen. Einiges mag darauf zurückgehen, dass er sich den Anschein geben musste, orthodox zu sein, um der Verfolgung zu entgehen, aber es muss auch eine mehr innere Ursache am Werke gewesen sein. Ich glaube nicht, dass ihm die Wirklichkeit der Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung, ja selbst die Wirklichkeit Gottes, allzu sehr am Herzen lag; was ihn aber zuinnerst beschäftigte, war die Wahrheit der Mathematik. Und die konnte in seinem System nur begründet werden, wenn zuerst die Existenz und die Attribute der Gottheit bewiesen waren. Psychologisch lässt sich sein System so ausdrücken: Kein Gott, keine Geometrie; aber die Geometrie ist herrlich, daher existiert Gott.
Leibniz, der das Wort prägte, »unsere Welt ist die beste aller möglichen Welten«, war von Descartes sehr verschieden. Er war bequem, nicht leidenschaftlich; Gelehrter von Beruf, nicht aus Liebhaberei. Er erwarb seinen Lebensunterhalt mit der Abfassung der Annalen des Hauses Hannover, und seinen Ruhm durch schlechte Philosophie. Er schrieb auch gute Philosophie, hütete sich aber, die zu veröffentlichen, da sie ihm die Renten gekostet hätte, die er von verschiedenen Fürsten bezog. Eins seiner meistgelesenen Werke, die Theodizee, schrieb er für Königin Sophie Charlotte von Preußen (die Tochter der Kurfürstin Sophia) als Gegenmittel gegen den Skeptizismus von Bayles »Dictionnaire«. In diesem Werk führt er, ganz im authentischen Stil von Voltaires Dr. Pangloss, die Gründe zum Optimismus aus. Er meint, es gebe, viele logisch mögliche Welten, deren jede Gott hätte schaffen können; einige davon kennen weder Sünde noch Schmerz, und in dieser wirklichen Welt ist die Zahl der Verdammten unvergleichlich größer als die der Geretteten. Aber er glaubt, dass Welten ohne das Böse soviel weniger Gutes enthalten als diese Welt, die Gott zu schaffen beschloss, dass in ihnen das Gute das Böse nicht so sehr überwiegt als das in unserer Welt der Fall ist. Leibniz und Königin Sophie Charlotte, die sich kaum zu den Verdammten zählten, fanden anscheinend an dieser Art Optimismus Gefallen.
Diesen Oberflächlichkeiten liegt aber ein tieferes Problem zugrunde, mit dem Leibniz ein Leben lang zu ringen hatte. Er wollte der unerbittlichen Notwendigkeit entrinnen, welche die Welt des Deterministen kennzeichnete, ohne die Herrschaft der Logik zu beschränken. In der wirklichen Welt, so dachte er, gibt es den freien Willen; außerdem entschied sich Gott in freier Wahl für diese Welt und zog sie so allen anderen möglichen Welten
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