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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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Schlummer«. Nach zwölfjähriger Meditation schuf er sein großes Werk, die »Kritik der reinen Vernunft«; sieben Jahre später verfasste er im Alter von vierundsechzig Jahren die »Kritik der praktischen Vernunft«, in der er nach fast zwanzig Jahren unbequemer Wahrheit seinen dogmatischen Schlummer wieder aufnahm. Er hatte zwei Grundanliegen: er wollte Gewissheit haben, dass es einen unabänderlichen Lauf der Dinge gäbe, und er wollte an die Moralgrundsätze glauben, die er in frühester Kindheit gelernt hatte. Hume wirkte auf beiden Gebieten verwirrend, denn er behauptete, wir dürften dem Kausalitätsgesetz nicht trauen, und er zweifelte am Leben im Jenseits, so dass die Guten ihres Lohnes im Himmel nicht sicher sein konnten. Die ersten zwölf Jahre von Kants Meditationen über Hume galten dem Gesetz der Kausalität, und schließlich fand er eine bemerkenswerte Lösung. Zwar können wir, so meinte er, nicht wissen, dass es in der wirklichen Welt Ursachen gibt, aber schließlich können wir ja über die wirkliche Welt gar nichts wissen. Die Anschauungswelt, die einzige, die unserer Erfahrung zugänglich ist, hat alle Eigenschaften, die wir ihr verleihen, ganz so, wie ein Mensch, der eine grüne Brille trägt, die er nicht abnehmen kann, alles grün sehen muss. Die Erscheinungen unserer Erfahrungswelt haben als Ursachen wieder andere Erscheinungen; wir brauchen uns nicht den Kopf zu zerbrechen, ob es in der Wirklichkeit, die hinter Erscheinungsformen steht, Ursächlichkeit gibt, da wir diese Wirklichkeit nicht erfahren können. Kant ging jeden Tag pünktlich zur selben Zeit spazieren; sein Diener folgte ihm mit dem Regenschirm. Die zwölf Jahre, die er zur Abfassung der »Kritik der reinen Vernunft« verwendet hatte, überzeugten den alten Mann, dass im Falle eines Regens der Schirm ihn davor schützen würde, die Nässe zu fühlen, was immer auch Hume über die wirklichen Regentropfen sagen mochte.
    Das war tröstlich, aber der Trost war teuer erkauft. Zeit und Raum, in denen Erscheinungen vor sich gehen, sind unwirklich: Kants psychischer Mechanismus erzeugte sie. Vom Raum wusste er nicht viel, da er nie weiter als zehn Meilen über Königsberg hinausgekommen war; hätte er Reisen unternommen, so wären ihm vielleicht Zweifel aufgestiegen, ob seine subjektive Schöpferkraft ausgereicht hätte, die ganze Geographie, die er dann vor Augen gehabt hätte, zu erfinden. Aber es tat wohl, wenigstens von der Wahrheit der Geometrie überzeugt zu sein; denn da er den Raum selbst erzeugt hatte, war er fest überzeugt, ihn euklidisch gemacht zu haben, und er wusste das, ohne sich außerhalb seines eigenen Ich umzusehen. Auf diese Art hatte er die Mathematik glücklich unter den Schirm gekriegt.
    Aber obgleich die Mathematik in Sicherheit war, war doch die Sittlichkeit immer noch in Gefahr. In der »Kritik der reinen Vernunft« lehrte Kant, dass die »reine« Vernunft weder das Leben im Jenseits noch die Existenz Gottes beweisen kann; sie kann uns daher nicht die Gewähr bieten, dass in der Welt Gerechtigkeit herrscht. Außerdem war da eine Schwierigkeit mit dem freien Willen. Meine Handlungen sind, insofern ich sie beobachten kann, Erscheinungen und haben daher Ursachen. Was meine Handlungen in sich selbst sind, darüber kann mir die reine Vernunft nichts sagen, so dass ich nicht weiß, ob sie frei sind oder nicht. Allein die »reine« Vernunft ist nicht die einzige – es gibt noch eine zweite Vernunft; nicht die »unreine«, wie man erwarten sollte, sondern die »praktische«. Diese geht von der Voraussetzung aus, dass alle sittlichen Lehren, die Kant in seiner Kinderzeit erhielt, wahr sind. (Eine solche Voraussetzung bedarf natürlich einer Verkleidung; sie wird in die philosophische Gesellschaft unter dem Namen »Kategorischer Imperativ« eingeführt.) Daraus folgt, dass der Wille frei ist, denn es wäre absurd, zu sagen: »Du sollst dies und jenes tun«, wenn man es nicht tun kann. Daraus folgt ferner, dass es ein Leben im Jenseits gibt, denn anderenfalls könnten ja die Guten nicht entsprechend belohnt, noch die Bösen angemessen bestraft werden. Daraus folgt auch, dass es einen Gott geben muss, der dafür Sorge trägt. Mag Hume auch die »reine« Vernunft in die Flucht geschlagen haben: das Sittengesetz hat schließlich doch den Metaphysikern den Sieg zugesprochen. So starb Kant froh und zufrieden, und man hat ihm seither stets Ehre erwiesen; seine Lehre wurde sogar zur offiziellen Philosophie des Nazistaates

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