Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Pflanzenseele, die lediglich für die Ernährung und das Wachstum zu sorgen hat, eine das Tier und den ihm übergeordneten Menschen zur Fortbewegung befähigende Tierseele und eine mit dem souveränen göttlichen Geist identische, auch Intellekt genannte Denkseele, an der die Menschen entsprechend dem Grade ihrer Weisheit teilhaben. Durch den Intellekt, das heißt durch das Denkvermögen, wird der Mensch in den Rang eines animal rationale erhoben. Nach Aristoteles äußert sich das Denken auf mannigfache Weise, nirgends aber so deutlich und so überzeugend wie in der Beherrschung der Rechenkunst – eine Auffassung, die auf die Besonderheit des griechischen Zahlensystems zurückgeht. Die Mängel dieses Systems machten schon das kleine Einmaleins zu einer schwierigen Angelegenheit, ganz abgesehen von verwickelteren Rechenaufgaben, die nur sehr gewitzte Leute mit Anstrengung zu bewältigen vermochten. Heute lösen Rechenmaschinen diese Aufgaben, und obwohl sie schneller und zuverlässiger arbeiten als die gescheitesten Menschen, würde es doch niemandem einfallen, sie für unsterblich zu erklären oder ihre Leistungen auf göttliche Inspiration zurückzuführen. Mit der Verminderung der Rechenschwierigkeiten sank auch der Respekt vor der Rechenkunst um einige Grade, und wenn die Philosophen uns auch immer noch versichern, was für feine Kerle wir sind, unserer arithmetischen Heldentaten wegen rühmt uns keiner mehr.
Da wir also nicht mehr auf die Rechenkünstler deuten können, wenn wir beweisen wollen, dass der Mensch ein mit Vernunft begabtes Wesen und seine Seele wenigstens zum Teil unsterblich sei, müssen wir uns nach einem Ersatz umtun. Aber wo sollen wir ihn suchen? Bei den Staatsmännern, die uns und die Welt so glorreich in unsere gegenwärtige Lage hineinmanövriert haben? Oder vielleicht in den Reihen der Literaten? Oder bei den Philosophen? Ich gebe zu, dass alle drei Gruppen berechtigten Anspruch auf unsere Wahl hätten, schlage aber doch vor, dass wir uns zuallererst bei denen umsehen, die gemeinhin als die weisesten und zugleich würdigsten Menschen anerkannt werden: bei den Geistlichen. Wenn sie nicht vernünftig sind – welche Hoffnung bleibt dann für uns so viel geringere Sterbliche? Und es hat leider Zeiten gegeben – ich muss es aussprechen, wenn auch mit allem schuldigen Respekt – es hat Zeiten gegeben, in denen man an der Weisheit des Klerus zweifeln musste, und sonderbarerweise waren es gerade die Zeiten seiner größten Macht und seines höchsten Einflusses.
Das von unseren Neuscholastikern vielgerühmte Zeitalter des Glaubens umfasste die Epochen, in denen der Geistlichkeit alles nach Wunsch ging. Das tägliche Leben jener Zeit war voll von den Wundertaten der Heiligen und den Zauberstücken des Teufels und der Schwarzkünstler. Tausende von Frauen und Mädchen starben als Hexen den Flammentod auf dem Scheiterhaufen, und die verworfene Menschheit wurde mit Hungersnöten und Pestilenz, mit Erdbeben, Überschwemmungen und Feuersbrünsten für ihre Sünden bestraft. Und doch war sie damals noch sündhafter als heute, so unwahrscheinlich das klingen mag.
Im streng wissenschaftlichen Sinne war die Welt so gut wie unerforscht. Einige wenige Gelehrte konnten sich wohl dunkel erinnern, dass man im alten Griechenland Beweise für die Kugelform der Erde erbracht hatte, aber die meisten Menschen lachten wie über einen guten Witz, wenn man ihnen von Antipoden erzählte. Die Annahme, dass auf der entgegengesetzten Erdhälfte ebenfalls Menschenwesen existierten, wäre ja Ketzerei gewesen. Man war allgemein der Überzeugung, dass der meisten Menschen die Verdammnis harre – heute vertreten die Katholiken einen etwas milderen Standpunkt – und überall, an jeder Ecke, sah man Gefahren lauern, besonders in der Umgebung der Mönche, die nicht einmal in Frieden ihre Mahlzeiten einnehmen konnten. Auf alle Speisen, die sie zum Munde führten, ließen sich Dämonen nieder, die darauf brannten, sich der Körper unvorsichtiger Esser zu bemächtigen, die nicht vor jedem Bissen das Kreuz schlugen. Altmodische Leute sagen noch heute »Gott segne Sie!«, wenn jemand niest; aber sie haben vergessen, warum sie es tun. Man glaubte früher, dass während des Niesens die Seele den Leib verlasse, wobei es leicht geschehen konnte, dass auf der Lauer liegende Dämonen in den entseelten Leib des Menschen eindrangen, bevor die Seele auf ihren angestammten Platz zurückzukehren vermochte. Durch die Segensformel aber
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