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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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Tugend fördern. Aber obwohl dies Argument sich förmlich aufdrängt, halten es doch viele sozialistische und kommunistische Intellektuelle für unerlässlich, sich den Anschein zu geben, als fänden sie die Proletarier liebenswerter als andere Menschen, während sie gleichzeitig ihre Absicht verkünden, jene Verhältnisse zu beseitigen, die nach ihrer Lehre allein gute Menschen hervorbringen können. Die Kinder wurden idealisiert von Wordsworth, entidealisiert von Freud. Marx war der Wordsworth des Proletariats; sein Freud muss erst kommen.
     

AUF DER HÖHE DER ZEIT
     
    U nsere Zeit hat den engsten Kirchturmhorizont seit Homer. Ich spreche dabei nicht von irgendeinem geographischen Kirchspiel: die Bewohner von Hinterschmutzhausen sind heute über das, was man in Praha, Gorki oder Peiping tut und denkt, besser unterrichtet als je zuvor. Wir haben vielmehr einen Kirchturmhorizont in zeitlicher Hinsicht: wie die neuen Namen die historischen Städte Prag, Nischni Nowgorod und Peking verbergen, so verbergen neue Schlagworte uns das Denken und Fühlen unserer Vorfahren, selbst wenn es von unserem ein wenig verschieden war. Wir meinen, den Gipfelpunkt der Intelligenz erreicht zu haben und können nicht glauben, dass in den seltsamen Kleidern und hinter den schwerfälligen Redewendungen unserer Ahnen Menschen und Gedanken steckten, die immer noch unsere Aufmerksamkeit verdienen. Soll »Hamlet« einen wirklich modernen Leser interessieren, so muss er zuerst in die Sprache von Marx oder Freud übersetzt werden, oder noch besser in einen Sprachmischmasch aus beiden. Ich las vor mehreren Jahren eine verächtliche Kritik eines Buches von Santayana; darin hieß es von einem Essay über Hamlet, er stamme »in jeder Beziehung aus dem Jahre 1908« – als hätten die seither gemachten Entdeckungen jede frühere Würdigung Hamlets unerheblich und verhältnismäßig oberflächlich gemacht. Es fiel dem Rezensenten nicht auf, dass seine Rezension »in jeder Beziehung aus dem Jahre 1936« stammte. Oder vielleicht fiel es ihm auf und erfüllte ihn mit Genugtuung. Er schrieb für den Augenblick, nicht für die Ewigkeit; im nächsten Jahr wird er die neue Mode im Denken mitmachen, was immer sie auch sei, und er hofft zweifellos, auf der Höhe der Zeit zu bleiben, solange er schreibt. Jedes andere Ideal eines Autors käme dem modern denkenden Menschen verstiegen und altmodisch vor.
    Der Wunsch, auf der Höhe der Zeit zu stehen, ist nur dem Grade nach neu; in gewissem Maße beherrschte er schon alle vorangegangenen Zeitabschnitte, die sich für fortschrittlich hielten. Die Renaissance verachtete die Jahrhunderte der Gotik, die ihr vorangegangen waren; im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert überdeckte man unschätzbare Mosaiken mit Tünche; die Romantik sah auf die Zeit des heroischen Reimpaares herab. Vor achtzig Jahren tadelte Lecky meine Mutter, dass sie sich von der Mode gegen die Fuchsjagden habe aufbringen lassen. Er schrieb: »Ich bin sicher, dass Sie in Wirklichkeit nicht die Spur von sentimentalem Mitleid für die Füchse hegen oder über die anmutigste Bestätigung der Frauenrechte, das Parforcereiten, entsetzt sind. Aber Sie betrachten immer die Politik und den Verstand als einen unerbittlichen Wettlauf und fürchten sich so schrecklich davor, nicht genügend fortschrittlich oder intellektuell zu sein.« Allein zu keiner Zeit war die Verachtung der Vergangenheit so vollkommen wie heute. Von der Renaissance bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts bewunderte man das römische Altertum; die Romantik erweckte das Mittelalter wieder zum Leben; meine Mutter las trotz all ihres Glaubens an den Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts ständig Shakespeare und Milton. Erst seit dem ersten Weltkrieg ist es Mode geworden, die Vergangenheit in Bausch und Bogen zu ignorieren.
    Der Glaube an die Diktatur der Mode in Meinungssachen hat große Vorteile. Er macht das Denken überflüssig und rückt die höchste Intelligenz in jedermanns Reichweite. Es ist nicht schwer, den korrekten Gebrauch von Worten wie »Komplex«, »Sadismus«, »Oedipus«, »bourgeois«, »Abweichung«, »Linke« und so fort zu lernen, und mehr braucht ein glänzender Autor oder Redner nicht. Wenigstens ein paar dieser Worte hatten ihre Erfinder viel Nachdenken gekostet; sie waren, gleich dem Papiergeld, ursprünglich in Gold umsetzbar. Allein sie sind für die meisten Menschen heute unumsetzbar geworden und haben durch ihre Entwertung den nominellen Reichtum an

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