Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Maßstäbe wurden immer noch im Himmel aufbewahrt, wenn auch der Himmel nicht mehr räumlich existierte.
Das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch fristeten das Wahre, das Gute und das Schöne ihr Schattendasein in den Hirnen ernsthafter Atheisten. Aber gerade ihr Ernst wurde ihnen zum Verhängnis, weil er es ihnen unmöglich machte, sich auf halbem Wege zu bescheiden und haltzumachen. Die Pragmatisten erklärten, Wahrheit sei, was sich zu glauben lohne. Sittengeschichtler machten das Gute von Stammessitten abhängig. Die Schönheit wurde von den Künstlern in einer Revolution gegen die süßlichen Geschmacklosigkeiten einer banausischen Epoche abgeschafft, in einem Wutausbruch, der sich erst zufrieden gibt, wenn er Wunden zufügen kann. Und so wurde die Welt radikal befreit – nicht nur von dem persönlichen Gott, sondern auch vom Wesen Gottes als einem Ideal, dem der Mensch ideelle Gefolgschaft schuldet, während man den Einzelnen infolge unreifer und kritikloser Auslegung an sich vernünftiger Lehren ohne jeden inneren Schutz dem sozialen Druck preisgab.
Alle Bewegungen schießen übers Ziel hinaus; dies gilt zweifellos von der Tendenz zur Subjektivität, die mit Luther und Descartes als Selbstbehauptung des Individuums einsetzte und mit innerer Folgerichtigkeit mit seiner völligen Unterwerfung endete. Die Subjektivität der Wahrheit ist eine übereilte Schlussfolgerung, deren vermeintliche Voraussetzungen nicht stichhaltig sind; jahrhundertelange Gewohnheit lässt außerdem heute viele Dinge mit dem theologischen Glauben verknüpft erscheinen, die es in Wirklichkeit nicht sind. Die Menschen lebten in einer bestimmten Illusion; verloren sie die, so verfielen sie in eine andere. Man kann aber einen alten Irrtum nicht mit einem neuen bekämpfen. Abstand und Objektivität des Denkens wie des Fühlens sind wohl geschichtlich, aber nicht logisch mit gewissen theologischen Überzeugungen verknüpft; sie auch ohne diese Überzeugungen zu wahren, ist nicht nur möglich, sondern auch wichtig. Ein gewisses Losgelöstsein von Zeit und Raum ist unerlässlich, um jene Atmosphäre der Unabhängigkeit zu schaffen, die für die bedeutsamste Arbeit erforderlich ist; es muss etwas geben, das man als bedeutender empfindet als die Bewunderung der zeitgenössischen Massen. Wir leiden nicht am Verfall des theologischen Glaubens, sondern am Verlust der Einsamkeit.
ZUR GENEALOGIE DES UNSINNS
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N ach allem, was man mir gesagt und mich gelehrt hat, ist der Mensch mit Vernunft begabt. Ein ganzes langes Leben hindurch habe ich eifrig nach einer Bestätigung dieser These Ausschau gehalten – leider ohne den geringsten Erfolg. Im Gegenteil, ich musste beobachten, wie die Menschheit mehr und mehr dem Wahnsinn verfiel. Ich habe gesehen, wie sich große Nationen – einst Bannerträger der Kultur – von Leuten in die Irre führen ließen, hinter deren bombastischem Geschrei sich der reinste Unsinn verbarg, und ich habe erlebt, dass Grausamkeit, Verfolgung und Aberglaube mit Riesenschritten einem Punkt zusteuerten, wo niemand mehr ein Lob der Vernunft wagen darf, ohne sogleich als lächerlicher alter Tropf, als bedauerliches Überbleibsel einer längst überlebten Zeit abgestempelt zu werden. In der Erkenntnis, dass bloße Verzweiflung nie zu etwas nütze gewesen ist, beschloss ich, mich dieser zwecklosen und schädlichen Gemütsverfassung durch ein aufmerksameres und genaueres Studium der Vergangenheit zu entziehen. Ich machte dabei wie einst Erasmus die Entdeckung, dass die Torheit ebenso alt ist wie die Menschheit selbst und dass die Menschen trotzdem nicht ausgestorben sind. Und da sich der Wahnwitz der eigenen Zeit leichter ertragen lässt, wenn man ihn vor dem Hintergrund vergangener Dummheiten betrachtet, will ich im folgenden versuchen, den Unfug unserer Tage an den Tollheiten früherer Jahrhunderte zu messen. Vielleicht gewinnen wir auf diese Weise den nötigen Abstand und damit die Erkenntnis, dass unsere Zeit letzten Endes auch nicht viel schlimmer ist als frühere Epochen, die von unseren Vorfahren überstanden wurden, ohne dass es zur letzten und äußersten Katastrophe kam.
Soviel ich weiß, war es Aristoteles, der den Menschen zum ersten Mal als ein vernunftbegabtes Wesen bezeichnete, und zwar mit der wohl nicht sehr überzeugenden Begründung, dass manche Leute rechnen könnten. Der griechische Philosoph unterscheidet drei verschiedene Seelen: eine allen Organismen innewohnende
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