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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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aber ich glaube, es liegt nicht mehr allzu fern.
    Thomas von Aquino, der offizielle Philosoph der katholischen Kirche, erörterte des langen und breiten ein sehr ernstes, von den modernen Theologen schmählich vernachlässigtes Problem. Er stellte sich einen Kannibalen vor, der nie etwas anderes zu sich genommen hat als Menschenfleisch und dessen Eltern die gleiche Geschmacksrichtung hatten. Jedes Partikelchen seines Körpers müsste von Rechts wegen einem anderen gehören. Man kann nun nicht gut annehmen, dass alle von Kannibalen gefressenen Menschen auch in Ewigkeit zu kurz kommen sollen. Was aber wird dann aus dem Kannibalen selbst? Wie soll man ihn nach allen Regeln der Kunst in der Hölle rösten, wenn sein ganzer Körper unter die rechtmäßigen Besitzer aufgeteilt werden muss? Ich gebe dem Heiligen recht, wenn er diese Frage als ein recht schwieriges Problem bezeichnet.
    Orthodoxe Christen erheben in diesem Zusammenhang einen recht merkwürdigen Einwand gegen die Feuerbestattung, der darauf schließen lässt, dass sie nur eine recht geringe Meinung von der Allmacht Gottes haben. Sie behaupten, es sei für Gott schwieriger, eine verbrannte als eine in der Erde von den Würmern zerfressene Leiche wieder zum Leben zu erwecken. Zweifellos wäre es recht mühselig, die Partikel aus der Luft zu sammeln und den chemischen Verbrennungsprozess umzukehren, doch wäre es bestimmt eine Blasphemie, anzunehmen, dass dies für Gott eine unlösbare Aufgabe sei.
    Ich muss daraus folgern, dass die Ablehnung der Feuerbestattung offene Ketzerei darstellt, nehme jedoch an, dass meine Feststellung orthodoxe Christen kaum beeindrucken wird.
    Die Kirche hat ihre Zustimmung zu Leichenöffnungen im Interesse der medizinischen Wissenschaft nur sehr zögernd und mit großem inneren Widerstreben gegeben. Als ein Pionier in der Frage der Sektion kann Vesalius bezeichnet werden, der Hofarzt Kaiser Karls V. Seines großen Könnens wegen gewährte ihm der Kaiser jeden erdenklichen Schutz. Nach dem Tode Karls jedoch geriet Vesalius bald in Ungelegenheiten. Man legte ihm zur Last, einen Menschen seziert zu haben, der unter dem Messer noch Lebenszeichen von sich gegeben habe, und klagte ihn des Mordes an. Nur der Vermittlung König Philipps II. hatte Vesalius es zu verdanken, dass er mit dem Leben davonkam. Das Inquisitionsgericht übte Nachsicht und verurteilte ihn lediglich zu einer Pilgerfahrt ins Heilige Land. Auf der Heimreise strandete sein Schiff, und er starb an Entkräftung. Noch Jahrhunderte nach diesem Vorfall durften die Medizinstudenten der Päpstlichen Universität in Rom nur an geschlechtslosen Gliederpuppen arbeiten.
    Der Glaube an die Heiligkeit des Leichnams ist weit verbreitet. Bei den Ägyptern steigerte er sich zu dem Wunsch, die Leichen vor der Verwesung zu bewahren, und so entstand der Brauch des Einbalsamierens, der heute noch in China verbreitet ist. Ein von den Chinesen als Dozent für westliche Medizin verpflichteter französischer Chirurg berichtet, dass seine Bitte, ihm Leichen zu Sektionszwecken zur Verfügung zu stellen, mit größtem Entsetzen aufgenommen wurde. Tote könne er nicht haben, bedeutete man ihm, dafür aber lebende Verbrecher in beliebiger Zahl. Dass er sich mit dieser Lösung nicht einverstanden erklären wollte, war seinen chinesischen Brotgebern völlig unbegreiflich.
    Es gibt zwar viele Arten der Sünde, darunter allein sieben Todsünden, das für den Satan ergiebigste Feld aber ist und bleibt der Sexus. Die orthodoxen katholischen Ansichten über diesen Gegenstand kann man beim Apostel Paulus, beim heiligen Augustinus und bei Thomas von Aquino nachlesen. Alle drei erklären das Zölibat für das einzig Richtige, haben jedoch nichts gegen eine Heirat einzuwenden, wenn jemand zur Enthaltsamkeit zu schwach ist. Der durch den Wunsch nach Kindern veranlasste Geschlechtsverkehr innerhalb der Ehe gilt als erlaubt. Hingegen ist jede außereheliche geschlechtliche Beziehung sündhaft, und auch der eheliche Geschlechtsverkehr wird zur Sünde, sobald die Eheleute die Empfängnis zu verhüten trachten. Ebenso gilt die Unterbrechung der Schwangerschaft als Sünde, selbst dann, wenn nach ärztlicher Ansicht keine andere Möglichkeit besteht, das Leben der Mutter zu erhalten. Denn Ärzte sind nicht unfehlbar, und sofern er will, kann Gott ein Menschenleben jederzeit durch ein Wunder retten – eine Auffassung, die beispielsweise in der Gesetzgebung des amerikanischen Staates Connecticut ihren Niederschlag

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