Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Ideen vermehrt. Daher sind wir nun in der Lage, den armseligen geistigen Besitz früherer Zeiten zu verachten.
Der modern denkende Mensch muss, obzwar er von der Weisheit seiner Zeit zutiefst überzeugt ist, doch hinsichtlich seiner persönlichen Fähigkeiten anscheinend sehr bescheiden sein. Seine größte Hoffnung besteht darin, zuerst zu denken, was man denken wird, dann zu sagen, was man sagen, und zu fühlen, was man fühlen wird; er hat kein Verlangen, bessere Gedanken zu denken als seine Mitmenschen, Dinge zu sagen, die von tieferer Einsicht zeugen, und Gefühle zu hegen, die nicht die irgendeiner modernen Richtung sind; er will nur den anderen zeitlich etwas voraus sein. Er unterdrückt ganz bewusst sein Eigenes, um der Bewunderung der Herde sicher zu sein. Ein geistig einsames Leben, wie das des Kopernikus, Spinozas oder Miltons nach der Restauration scheint nach modernen Begriffen sinnlos. Kopernikus hätte mit der Verkündung seines Systems warten sollen, bis man eine Mode daraus machen konnte; Spinoza hätte entweder ein guter Christ oder ein guter Jude sein, und Milton schließlich mit der Zeit gehen sollen, wie Cromwells Witwe, die Karl II. um eine Witwenpension ersuchte, da sie die Politik ihres Mannes missbilligte. Warum sollte ein Einzelner sich zum unabhängigen Richter aufwerfen? Liegt es nicht auf der Hand, dass die Weisheit der nordischen Rasse oder, je nachdem, dem Proletariat innewohnt? Und was nützt schließlich eine ausgefallene Meinung, die keine Aussicht hat, die wirksame Unterstützung der Reklame zu gewinnen?
Die finanziellen Erträge und der weitverbreitete, wenn auch vergängliche Ruhm, den diese wirksame Unterstützung ermöglicht hat, führen fähige Menschen in Versuchungen, denen man schwer widerstehen kann. Öffentliche Aufmerksamkeit und Bewunderung, ständige Erwähnung in der Presse und müheloser und hoher Verdienst sind sehr angenehme Dinge, und wenn alles dies einem Menschen offensteht, so fällt es ihm schwer, die Arbeit fortzusetzen, die er selbst für die beste hält, und er neigt dazu, sein Urteil der öffentlichen Meinung zu unterordnen.
Zu diesem Ergebnis tragen noch verschiedene andere Faktoren bei. Einer davon ist der atemberaubende Fortschritt, der bewirkt hat, dass es heute schwer ist, Werke zu schaffen, die nicht bald wieder überholt sind. Newton dauerte bis auf Einstein; Einstein gilt heute vielen schon als veraltet. Heute macht sich kaum ein Naturwissenschaftler an die Abfassung eines großen Werkes, weil er weiß, dass andere, während er schreibt, Neues entdecken werden, das sein Werk veralten lässt, bevor es noch erscheint. Die Gemütsstimmung der Welt wechselt mit derselben atemberaubenden Schnelligkeit; Kriege, Depressionen und Revolutionen jagen einander auf der Weltbühne. Ereignisse des öffentlichen Lebens greifen heute rücksichtsloser ins Privatleben ein als früher. Spinoza konnte trotz seiner ketzerischen Ansichten weiter Brillen verkaufen und meditieren, selbst als sein Land von auswärtigen Feinden überfallen wurde; hätte er in unserer Zeit gelebt, so hätte man ihn aller Wahrscheinlichkeit nach entweder zum Militärdienst eingezogen oder aber ins Gefängnis geworfen. Aus diesen Gründen bedarf es heute einer entschiedeneren persönlichen Überzeugung, soll ein Mensch sich gegen den Strom seiner Zeit behaupten, als sie in allen früheren Perioden seit der Renaissance erforderlich gewesen wäre.
Die Ursache des Umschwungs liegt jedoch tiefer. Als Milton »jenes eine Talent, das über den Tod triumphieren soll«, üben wollte, fühlte er, dass seine Seele »begierig war, damit meinem Schöpfer zu dienen«. Jeder religiös gesinnte Künstler war überzeugt, dass Gottes ästhetisches Urteil sich mit dem seinen deckte; er hatte daher einen vom Beifall der Menge unabhängigen Grund, zu tun, was er für sein Bestes hielt, selbst wenn sein Stil aus der Mode war. Der Naturforscher zeigte auf seiner Suche nach der Wahrheit, selbst wenn er mit dem herrschenden Aberglauben in Konflikt geriet, immer noch die Wunder der Schöpfung auf und brachte den unvollkommenen Glauben der Menschen in engere Übereinstimmung mit dem vollkommenen Wissen Gottes. Jeder ernste Arbeiter, ob Künstler, Philosoph oder Astronom, glaubte Gottes Absichten zu dienen, wenn er seinen eigenen Überzeugungen folgte. Als mit der fortschreitenden Aufklärung dieser Glaube allmählich ins Wanken geriet, blieb immer noch das Wahre, das Gute und das Schöne. Außermenschliche
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