Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Kriege teilgenommen haben, sich deshalb benachteiligt fühlen oder gar Minderwertigkeitskomplexe bekommen. Die Schweden beispielsweise, die seit 1814 keinen Krieg mehr erlebt haben, sind die glücklichsten und harmonischsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Der einzige Schatten auf ihrem Glück ist die Befürchtung, sie könnten in einen künftigen Krieg hineingezogen werden. Wenn die politische Struktur unserer Gesellschaft einen Krieg zu einem von vornherein aussichtslosen Geschäft stempeln würde, könnte ihn kein noch so starker menschlicher Urtrieb erzwingen, und kein normaler Mensch würde sein Ausbleiben beklagen. Mit den gleichen Argumenten, mit denen man jetzt die Unvermeidlichkeit des Krieges zu beweisen sucht, hat man seinerzeit den Brauch des Duellierens verteidigt; und wer von uns fühlte sich heute in der Entwicklung seiner Persönlichkeit gehemmt, weil er seine Kräfte nicht mehr im Zweikampf messen darf?
Ich persönlich bin der Überzeugung, dass es keinen Unsinn gibt, den eine Regierung ihren Untertanen nicht einreden könnte. Man stelle mir eine angemessene Armee zur Verfügung und gebe mir die Möglichkeit, sie so zu bezahlen und zu ernähren, dass ihr Los sich von dem des Durchschnittsbürgers angenehm unterscheidet und ich mache mich anheischig, die Mehrheit der Bevölkerung innerhalb von dreißig Jahren davon zu überzeugen, dass zwei und zwei drei ist, dass Wasser gefriert, wenn man es erhitzt, und kocht, wenn es sich abkühlt, und dergleichen Unsinn mehr. Selbstverständlich würden die Leute trotz dieser neuen Erkenntnisse den Teekessel nicht in den Eisschrank stellen, wenn sie kochendes Wasser brauchen. Dass Wasser durch Kälte zum Kochen gebracht wird, würde eine Sonntagswahrheit bleiben, etwas Heiliges und Mystisches, das nur in ehrfurchtsvollem Ton erwähnt werden dürfte, im praktischen Leben aber keine Anwendung fände. Wer sich einfallen ließe, die mystische Doktrin mit dreisten Worten zu verleumden, würde sich damit außerhalb des Gesetzes stellen und hätte als Ketzer den »Kältetod« auf dem Scheiterhaufen zu erwarten. Alle, die dem neuen Staatsglauben nicht begeistert zustimmten, müssten aus dem Lehramt oder anderen wichtigen Staatsstellungen entfernt werden. Nur den höchsten Würdenträgern dürfte gestattet sein, in leicht angetrunkenem Zustand einander zuzuflüstern, welch haarsträubender Unfug das Ganze sei; sie würden dann lachen und weitertrinken. Leider ist, was ich hier skizziere, nicht einmal Karikatur; denn es deckt sich nahezu völlig mit dem, was unter einigen modernen Regierungssystemen tatsächlich geschieht.
Die Entdeckung, dass man mit wissenschaftlichen Mitteln den Menschen umformen und seine Handlungen bestimmen kann und dass die Regierenden es in der Hand haben, die Massen in jede beliebige Richtung zu dirigieren, ist eine der Ursachen unseres Unglücks. Zwischen einer Gemeinschaft geistig freier Bürger und einem nach modernen Propagandamethoden zusammengeschweißten Kollektiv besteht der gleiche Unterschied wie zwischen einem Haufen Rohmaterial und einem Schlachtschiff. Unglücklicherweise ist man dahinter gekommen, dass sich die allgemeine Schulpflicht – ursprünglich nur dazu bestimmt, allen Menschen das Erlernen des Lesens und Schreibens zu ermöglichen – auch für andere Zwecke eignet, dass sie, wenn man den entsprechenden Unsinn verzapfen lässt, geistigen Konformismus und kollektive Begeisterung bewirken kann. Wenn wenigstens alle Regierungen den gleichen Unsinn lehren ließen! Das Unheil wäre dann nicht ganz so schlimm. Leider aber predigt jede Regierung ihren eigenen Weg zur Glückseligkeit, und eben diesen Unterschieden entspringen die großen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der verschiedenen Glaubensbekenntnisse. Wenn die Menschheit je in Frieden leben soll, müssen die Regierungen entweder auf sämtliche Dogmen überhaupt verzichten, oder sich zumindest darauf einigen, ein einziges Dogma festzulegen, das für alle Völker verbindlich ist. Die erste Möglichkeit wird wohl in Ewigkeit ein utopisches Ideal bleiben. Wie aber wäre es, wenn alle Staatsoberhäupter einmütig verkündeten, die Politiker aller Länder seien Musterexemplare an Charakterfestigkeit und Weisheit? Vielleicht werden die den nächsten Krieg überlebenden Politiker ein Gemeinschaftsprogramm dieser Art für ratsam halten.
Leider aber ist nicht nur der völlige geistige Konformismus gefährlich, auch übertriebene Originalität birgt ihre Tücken.
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