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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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Bereich des Anormalen gehörenden Kleptomanie. Ebenso wird der von einem Wahnsinnigen verübte Mord anders beurteilt als die Bluttat eines geistig Gesunden. Sexuelle Verirrungen dagegen erregen einen solchen Abscheu, dass man bis heute nicht gewagt hat, sie an die für derartige Fälle allein zuständige ärztliche Instanz zu verweisen. Nun ist sittliche Entrüstung im Großen und Ganzen ein nützlicher gesellschaftlicher Faktor, richtet sie sich jedoch gegen die Opfer von Krankheiten, deren höchstens der Psychiater Herr werden kann, wird sie schädlich und verwerflich.
    Dasselbe gilt auch für die Weltpolitik. Der erste Weltkrieg hat natürlich heftige Ressentiments gegen die Deutschen ausgelöst, die nach ihrer Niederlage entsprechend hart bestraft wurden. Im zweiten Weltkrieg aber kam man zu der Einsicht, dass der Versailler Vertrag lächerlich milde gewesen sei, da er ja, wie man sehe, den Deutschen keine Lehre erteilt habe. Diesmal werde man rigoroser vorzugehen wissen, wurde eifrigst versichert. Meines Erachtens aber hätten wir die Wiederholung der deutschen Aggression vielleicht eher verhüten können, wenn wir die kleineren Nationalsozialisten nicht als strafwürdige Verbrecher, sondern als geistig Kranke angesehen hätten. Natürlich müssen Wahnsinnige in Schach gehalten werden; aber man überwacht und isoliert sie aus Gründen der Vorsicht und nicht etwa, um sie zu bestrafen. Und soweit es die Vorsicht zulässt, bemüht man sich nach Kräften, ihnen ihr Los so angenehm wie möglich zu machen. Jeder weiß, dass ein zu Gewalttaten neigender Geisteskranker durch schlechte Behandlung noch gewalttätiger wird. Selbstverständlich hat es viele Verbrecher unter den Nationalsozialisten gegeben, aber ein großer Teil muss mehr oder minder geisteskrank gewesen sein. Wenn es gelingen soll, Deutschland zu einem friedlichen Glied der westeuropäischen Völkergemeinschaft zu machen, muss das Gerede von der besonderen Schuld des deutschen Volkes ein Ende haben. Wer bestraft wird, lernt seine Richter in den seltensten Fällen lieben. Und solange die Deutschen die übrige Menschheit hassen, bleibt der Frieden eine fragwürdige Angelegenheit.
    Wenn man von den abergläubischen Vorstellungen der Wilden oder auch der alten Babylonier und Ägypter liest, fragt man sich verwundert, wie es möglich ist, dass Menschen jemals etwas so Absurdes glauben konnten. Aber die unter den Ungebildeten der modernen zivilisierten Staaten herrschenden Ansichten und Überzeugungen sind oft nicht minder grotesk.
    So hat man mir z. B. ernsthaft versichert, dass alle im März geborenen Menschen von Pech verfolgt seien und die im Mai zur Welt gekommenen ganz besonders zu Hühneraugen neigten. Ich kenne den Ursprung und die Geschichte dieses speziellen Aberglaubens nicht, nehme aber an, dass er auf die Weisheiten der babylonischen oder ägyptischen Priester zurückgeht. Ein Glaube nimmt stets in den höheren Gesellschaftsschichten seinen Anfang und sinkt dann, wie der Schlamm in den Flüssen, nach und nach immer tiefer. Es können drei-bis viertausend Jahre vergehen, ehe er auf dem Grund angelangt ist. Im heutigen Amerika muss man immer darauf gefasst sein, ein farbiges Dienstmädchen mit der allergrößten Selbstverständlichkeit Plato zitieren zu hören, natürlich nicht gerade eine der Stellen, die von den Gelehrten angeführt zu werden pflegen, sondern irgendeinen dem großen Griechen unterlaufenen Unsinn, wie beispielsweise die Bemerkung, dass Männer, die nicht nach Weisheit streben, zur Strafe als Frauen wieder auf die Welt kommen.
    Nichts ist vielleicht so weit verbreitet wie der Glaube an bestimmte Pech-und Glückstage. In früheren Zeiten pflegten sich selbst Generale auf den Schlachtfeldern danach zu richten. Und noch heute ist das Vorurteil gegen den Freitag und gegen die Zahl 13 höchst lebendig. Seeleute ziehen es vor, an einem Freitag nicht in See zu stechen, und die meisten Hotels haben keine Zimmernummer 13 und kein 13. Stockwerk. Auch dieser Aberglaube wurde einst von sogenannten Weisen in die Welt gesetzt. Heute betrachten ihn die gleichen Kreise als harmlose Torheit, und vermutlich werden viele Ansichten und Überzeugungen unserer heutigen Gelehrten in zweitausend Jahren als ebenso töricht gelten. Der Mensch ist und bleibt nun einmal ein leichtgläubiges Wesen. Irgendetwas muss er immer glauben, und wenn sich ihm nichts Besseres bietet, dann nimmt er auch mit dem Unwahrscheinlichen vorlieb.
    Der Glaube an die »Natur« und das

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