Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Es gibt gewisse »fortschrittliche Denker«, die sich einbilden, jedem recht geben zu müssen, dessen Ansichten von den landläufigen Überzeugungen abweichen. Das scheint mir verfehlt, denn es wäre sonst wirklich allzu einfach, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Leider gibt es unendlich viele Möglichkeiten, sich zu irren und die meisten Narren greifen eher ausgefallene Irrtümer auf als ausgefallene Wahrheiten.
Ein Elektrotechniker, mit dem ich einmal zufällig zusammentraf, überfiel mich nach kurzer Begrüßung mit den Worten: »Es gibt zwei Methoden der Heilung durch den Glauben: die von Christus geübte und die von der Mehrzahl der Mitglieder der Christian Science angewandte. Ich heile nach der Methode Christi.« Wenig später wurde der Mann wegen betrügerischer Buchführung ins Gefängnis gesteckt; im Bereich der Justiz ist mit dem Glauben nicht viel anzufangen. Ich kannte auch einen angesehenen Irrenarzt, der zur Philosophie hinüberwechselte und eine neue Logik lehrte, die er nach seinem eigenen freimütigen Bekenntnis von seinen Patienten übernommen hatte. Wie man nach seinem Tode feststellte, hatte er testamentarisch die Gründung einer Professur für seine originellen wirtschaftlichen Methoden verfügt; leider aber hatte er vergessen, die für den neuen Lehrstuhl erforderlichen Geldmittel zu hinterlassen. Arithmetik und Irrenlogik scheinen sich also nicht gut miteinander zu vertragen. Solcher Kuriositäten gibt es viele. Einmal kam ein Mann mit der Bitte zu mir, ich möge ihm doch einige meiner Bücher empfehlen, er interessiere sich so sehr für Philosophie. Ich tat ihm den Willen. Am nächsten Tag erschien er wieder und erklärte mir, er habe nur einen einzigen Satz von dem Gelesenen verstehen können, und der sei falsch. Als ich mich erkundigte, welchen Satz er meine, antwortete er: »Sie sagen, dass Julius Cäsar tot ist, und das stimmt nicht.« Auf meine erstaunte Frage, weshalb er an dieser Feststellung zweifle, erwiderte er: »Weil ich Julius Cäsar bin.« – Ich glaube, schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass exzentrisches Denken nicht immer und unter allen Umständen gleichbedeutend ist mit richtigem Denken.
Die Wissenschaft, die dem Volksglauben gegenüber von jeher einen schweren Stand hatte, muss augenblicklich einen besonders harten Kampf auf dem Gebiet der Psychologie und der Kriminologie durchstehen. Personen, die über die menschliche Natur genau Bescheid zu wissen meinen, sind gewöhnlich rat-und hilflos, wenn sie über ein aus normaler Veranlagung begangenes Verbrechen zu richten haben.
Manche Knaben wollen trotz aller Bemühungen ihrer nächsten Umgebung nicht lernen, »stubenrein« zu werden, wie man bei Tieren sagen würde. Personen, die gern betonen, dass sie keinen Unfug dulden, sind bei solchen Gelegenheiten sofort mit Strafen bei der Hand: der Junge wird geschlagen, und wenn sich das Vergehen wiederholt, bekommt er ärgere Schläge. Dabei wissen alle Mediziner, die sich mit diesen Fällen näher befasst haben, dass sich das Übel durch Strafen nur verschlimmert. Bisweilen hat es körperliche Ursachen, meist aber ist mit der Seele des betreffenden Kindes etwas nicht in Ordnung. Im letzteren Falle kann das Leiden nur geheilt werden, wenn der bisweilen sehr tief sitzende und vermutlich unbewusste seelische Kummer behoben wird. Aber für die meisten Menschen ist es eine Freude und ein Genuss, jemand zu haben, den sie bestrafen können, wenn er sie irritiert, und darum wird die ärztliche Auffassung einfach als »eingebildeter Unsinn« abgetan. Auch der Fall der Exhibitionisten gehört hierher. Immer wieder schickt man diese Unglücklichen ins Gefängnis, und sobald sie in Freiheit sind, werden sie rückfällig. Ein auf diese Anomalie spezialisierter Arzt äußerte einmal im Gespräch mit mir, dass man Exhibitionisten sehr einfach heilen könnte, wenn man sie in Hosen kleidete, die man hinten schließt. Aber dieses Mittel wird natürlich gar nicht versucht, weil es die menschlichen Rachegelüste nicht befriedigt.
Im allgemeinen kann man wohl sagen, dass sich solche Vergehen, die ihrem seelischen Ursprung nach als »gesund« gelten können, unter Umständen durch Strafen verhindern lassen, niemals jedoch Verbrechen, die einer anormalen Veranlagung entspringen. Zum Teil haben sich die modernen Gerichte diese Auffassung schon zu Eigen gemacht. Das Gesetz unterscheidet zwischen dem Diebstahl, dessen Motiv ein sozusagen »vernünftiges« Selbstinteresse ist, und der in den
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