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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertrand Russell
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man von ihm in totalitären Ländern nicht jene Unterrichtsmethoden, die er zur Erreichung des Lehrziels für angebracht hält; er soll vielmehr Angst einflößen, Unterwürfigkeit und blinden Gehorsam züchten, indem er fraglose Unterwerfung unter seine Autorität fordert. Wagt er sich aber auch nur einen Schritt über die bloßen Anfangsgründe hinaus, so hat er in allen strittigen Fragen die offizielle Meinung zu vertreten. Infolgedessen wurde die Jugend Nazideutschlands, und wird die Jugend Russlands, zu fanatischen Eiferern, die von der Welt außerhalb ihrer eigenen Landesgrenzen nichts wissen, der freien Diskussion gänzlich ungewohnt, nicht ahnend, dass ihre Überzeugung auch ohne hinterhältige Absicht in Frage gestellt werden kann. Dieser Zustand ist schlimm genug; er wäre aber weniger schlimm, wenn die verkündeten Dogmen, so wie im mittelalterlichen Katholizismus, universal und international wären. Die ganze Auffassung einer weltweiten Kultur wird jedoch abgelehnt von den Dogmatikern der Neuzeit, die in Deutschland, in Italien, dann in Russland und wieder in Japan ein jeweils verschiedenes Glaubenbekenntnis predigten. In allen diesen Ländern lag das Schwergewicht in der Jugenderziehung auf dem fanatischen Nationalismus; daraus folgt, dass die Bevölkerung des einen Landes mit der eines anderen nichts gemeinsam hat und dass kein gemeinsames Kulturideal kriegerischer Grausamkeit hemmend in den Weg treten kann.
    Der Verfall einer internationalen Kulturidee ist seit dem ersten Weltkrieg immer rascher vor sich gegangen. Bei meinem Aufenthalt in Leningrad im Jahre 1920 lernte ich den Professor für Reine Mathematik kennen, der London, Paris und andere Hauptstädte kannte und an verschiedenen internationalen Kongressen teilgenommen hatte. Heutzutage werden den russischen Gelehrten solche Ausflüge nur selten gestattet, weil man fürchtet, sie könnten ungünstige Vergleiche mit ihrem eigenen Land ziehen. In anderen Ländern ist der Nationalismus weniger radikal, jedoch überall stärker als früher. In England (ich glaube, auch in den Vereinigten Staaten) sind Bestrebungen im Gange, im Französisch-und Deutschunterricht keine Franzosen und Deutschen mehr zu beschäftigen. Dieses Vorgehen, dass man bei der Bestellung eines Lehrers seine Volkszugehörigkeit über seine Fähigkeiten stellt, schadet dem Unterrichtswesen und verletzt das Ideal einer internationalen Kultur, das wir vom Römischen Weltreich und der katholischen Kirche ererbt hatten, das aber heute im Begriffe steht, in einer neuen barbarischen Invasion unterzugehen, die eher von unten als von außen kommt.
    In den demokratischen Ländern haben diese Übelstände noch nicht annähernd gleiche Ausmaße erreicht, doch muss zugegeben werden, dass die ernste Gefahr einer ähnlichen Entwicklung im Erziehungswesen auch dort besteht und dass sie nur abgewendet werden kann, wenn die Verfechter der Gedankenfreiheit auf dem Posten sind, die Lehrer vor geistiger Sklaverei zu schützen. Das erste Erfordernis hierzu ist vielleicht eine klare Vorstellung von dem Dienst an der Gemeinschaft, den man von den Lehrern erwarten kann. Ich stimme mit den Regierungen aller Welt darin überein, dass die Vermittlung bestimmten, unbestreitbaren Wissens zu den Mindestaufgaben des Lehrers gehört. Das ist selbstverständlich die Grundlage, auf der übrige Bau errichtet ist; es ist in einer technischen Zivilisation wie der unseren auch zweifellos von beträchtlichem Nutzen. Es muss in einer modernen Gemeinschaft eine genügende Anzahl von Menschen geben, die über die nötige technische Ausbildung verfügen, um den Mechanismus in Gang zu halten, von dem unsere leibliche Wohlfahrt abhängt. Außerdem ist es hemmend, wenn ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung Analphabeten sind. Aus diesen Gründen sind wir alle für die Schulpflicht in allen Staaten der Welt. Aber die Regierungen haben erfasst, dass man im Rahmen des Unterrichts leicht Überzeugungen in strittigen Fragen einflößen und Denkhaltungen heranbilden kann, die den Machthabern entweder gelegen oder aber ungelegen sein können. Die Verteidigung des Staates ist in allen zivilisierten Ländern ebenso sehr Sache der Lehrer wie der bewaffneten Macht. Eine solche Verteidigung des Staates ist, ausgenommen in den totalitären Ländern, ja wünschenswert, und die Tatsache, dass das Unterrichtswesen in ihren Dienst gestellt wird, allein noch kein Grund zur Kritik. Kritik wird sich vielmehr erst dann erheben, wenn der Staat

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