Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
schwer, dass die Kirche sich in jüngerer Zeit zu einer erheblichen Milderung der Dogmen über die Auswahl der Verdammten veranlasst sah. Die von vielen modernen Christen vertretene Doktrin, dass alle Menschen in den Himmel kommen, musste eigentlich die Todesfurcht beheben. Aber sie ist etwas so Instinktives, dass sie sich nicht so ohne weiteres bezwingen lässt. E W. H. Myers, den der Spiritismus zum Glauben an ein Fortleben im Jenseits bekehrt hatte, fragte einmal eine Frau, die vor nicht langer Zeit ihre Tochter verloren hatte, was ihrer Ansicht nach aus der Seele des Mädchens geworden sei. Die Mutter antwortete: »Nun, ich hoffe zu Gott, dass sie die Freuden der ewigen Seligkeit genießt; aber ich wollte, Sie sprächen lieber nicht von so unerfreulichen Dingen.« Trotz aller Bemühungen der Theologie bleibt der Himmel den meisten Menschen eben doch etwas »Unerfreuliches«.
Selbst so überfeinerte Religionstheorien wie die Mark Aurels oder Spinozas beschäftigten sich eingehend mit der Furcht und ihrer Überwindung. Für die Stoiker stellte sich das Problem sehr einfach dar, nach ihrer Meinung besaß der Mensch nur ein einziges wirklich wertvolles Gut: die Tugend, deren ihn kein Feind berauben konnte – und sie folgerten daraus, dass man keinen Feind zu fürchten brauche. Leider aber wollte niemand glauben, dass es nichts Wünschenswerteres und Erstrebenswerteres auf Erden gebe als die Tugend. Nicht einmal Mark Aurel vermochte sich zu dieser Auffassung durchzuringen, obwohl er als Kaiser alles tat, um seine Untertanen zur Tugend zu erziehen und sie vor Barbaren, Hungersnöten und Pestilenz zu schützen. Spinozas Lehre ist der Mark Aurels sehr ähnlich. Auch für ihn ist Gleichgültigkeit gegen weltlichen Besitz und weltliche Freuden das einzig wertvolle Gut des Menschen. Wie Mark Aurel redete er sich und anderen ein, dass körperliches Leiden und ähnliche Dinge im Grunde nicht von Übel seien. Fraglos eine edle und erhabene Methode, der Furcht zu entrinnen, doch geht sie von einer falschen Voraussetzung aus. Und wenn die Menschen sich vorbehaltlos danach richten wollten, würden sie nicht nur gegen ihre eigenen Leiden und Schmerzen, sondern in erster Linie gegen die ihres Nächsten unempfindlich werden.
Unter dem Einfluss intensiver Furcht wird nahezu jeder abergläubisch. Die Seeleute, die den Propheten Jonas über Bord geworfen hatten, waren fest davon überzeugt, dass der Sturm, in dem ihr Boot zu zerschellen drohte, durch den rächenden Geist des Ertrunkenen entfesselt sei. In ähnlicher Gemütsverfassung fielen die Japaner bei der großen Erdbebenkatastrophe von Tokio über Koreaner und Liberale her und metzelten sie blindwütig nieder. Die Karthager schrieben ihre Niederlagen in den Punischen Kriegen der sträflichen Nachlässigkeit zu, mit der sie seit langem die Anbetung des großen Götzen Moloch betrieben hatten. Moloch verlangte nach Kindesopfern, und zwar bevorzugte er Kinder von Aristokraten. Die karthagischen Adelsfamilien aber hatten sich angewöhnt, statt ihrer eigenen Nachkommenschaft die weniger wertvollen Kinder der Plebejer zu opfern. Nun schlug ihnen das Gewissen, und als ihr Unglück seinen Höhepunkt erreicht, lieferten sie auch die aristokratischsten Kleinen pflichtschuldigst ans Messer. Sonderbarerweise trugen die Römer trotz dieser höchst demokratischen Reform bei ihren Gegnern schließlich den Sieg davon.
Kollektive Furcht fördert den Herdentrieb und führt zu rücksichtsloser Grausamkeit gegen alle, die nicht zur Herde gehören. So brachte die Furcht vor fremden Truppen die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution hervor, und selbst das Sowjetregime wäre vermutlich toleranter gewesen, wenn es sich in den ersten Jahren nicht so vielen Feinden gegenübergesehen hätte. Furcht gebiert Grausamkeit und begünstigt deshalb jeden Aberglauben, der Grausamkeit zu rechtfertigen scheint. Unter dem Alpdruck intensiver Furcht kann jeder Einzelne, jedes Kollektiv, jede Nation der Unvernunft oder Unmenschlichkeit zum Opfer fallen. Aus diesem Grunde ist der Feige im Allgemeinen grausamer und für jede Art Aberglauben anfälliger als der Mutige. Unter »Mut« verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht nur Furchtlosigkeit dem Tode gegenüber, sondern Unerschrockenheit in jeder Beziehung und in allen Lebenslagen. Viele Menschen, die jederzeit tapfer sterben würden, bringen nicht den Mut auf, offen auszusprechen oder auch nur bei sich selbst zu denken, dass die Sache, für die man sie
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