Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
in den Tod schicken will, schlecht sei und dies Opfer eines Menschenlebens nicht rechtfertigt. Für die meisten Menschen ist üble Nachrede schlimmer als der Tod. Dies ist einer der Gründe, weshalb in Zeiten allgemeiner Erregung so selten jemand von der vorherrschenden Meinung abzuweichen wagt. Kein Karthager würde je ein Wort gegen den Moloch geäußert haben, weil dazu mehr Mut gehört hätte als zum Tode in der Schlacht.
Aber ich glaube, wir sind etwas zu feierlich geworden. Nicht immer ist der Aberglaube schlankweg abzulehnen. Ganz im Gegenteil, er trägt nicht selten zur Erheiterung unseres Lebens bei.
So erhielt ich einmal einen Brief, in dem mir der ägyptische Gott Osiris unter anderem seine Telefonnummer mitteilte und um meinen Anruf bat – er wohnte damals in einem Vorort von Boston. Obwohl ich darauf verzichtet habe, mich seinen Jüngern anzuschließen, bereitete mir seine Epistel großes Vergnügen. Ich erhalte auch manchmal Briefe, in denen die Absender sich als den kommenden Messias bezeichnen und mich beschwören, dieses wichtige Faktum unter allen Umständen in meinen Vorträgen zu erwähnen.
Zur Zeit der Prohibition existierte in Amerika eine Sekte, die der Ansicht war, dass bei der Feier des heiligen Abendmahls statt des Weines Whisky getrunken werden müsse. Dieser Glaubenssatz berechtigte die Sekte, einen angemessenen Schnapsvorrat zu unterhalten und verschaffte ihr nicht wenige Anhänger.
Für eine bestimmte englische Sekte sind die Briten die verlorengegangenen zehn Stämme des Alten Testaments, während sie nach Auffassung einer anderen Glaubensgemeinschaft nur als die Stämme Ephraim und Manasse zu gelten haben. Jedes Mal, wenn ich mit einem Mitglied einer der beiden Sekten zusammentreffe, bekenne ich mich freimütig zu der Auffassung der anderen, woraus sich schon so manche angenehme Diskussion ergeben hat.
Sehr sympathisch finde ich auch die Leute, die sich mit dem Studium der Cheopspyramide abgeben, in der nie erlahmenden Hoffnung, eines Tages ihre Hieroglyphen entziffern und die in ihnen enthaltene mystische Botschaft enträtseln zu können. Viele großartige Bücher wurden über diesen Gegenstand geschrieben, und einige von ihnen sind mir von ihren Autoren eigenhändig überreicht worden. Ich fand es allerdings immer ein wenig seltsam, dass die geschichtlichen Prophezeiungen der Cheopspyramide bis zum Veröffentlichungsdatum des jeweiligen Erläuterungswerkes haargenau stimmen, indessen an Zuverlässigkeit verlieren, sobald sie über diesen Zeitpunkt hinausgehen. Gewöhnlich rechnet der Autor mit dem baldigen Ausbruch kriegerischer Verwicklungen in Ägypten und im Anschluss daran mit dem Erscheinen des Antichristen. Da dieser aber inzwischen schon so häufig aufgetreten ist, sieht sich der Leser solchen Voraussagen gegenüber zur Skepsis genötigt.
Meine ganz besondere Bewunderung und Verehrung gilt einer Prophetin, die um 1820 im Norden des Staates New York am Rande eines Sees lebte. Eines Tages verkündete sie ihren zahlreichen Anhängern, dass sie wie Christus auf dem Wasser wandeln könne und dass sie beabsichtige, diese wunderbare Fähigkeit an dem und dem Tage, vormittags um elf Uhr, unter Beweis zu stellen. Pünktlich zur angegebenen Zeit hatten sich Tausende von Gläubigen am Ufer des Sees eingefunden, um dem Wunder beizuwohnen. Und die Prophetin sprach zu ihnen: »Glaubt ihr alle, ohne zu zweifeln, dass ich über das Wasser gehen kann?« Wie aus einem Munde antworteten die Tausende: »Ja!« – »Dann brauche ich es euch nicht vorzuführen«, erklärte die Prophetin feierlich, und alle gingen höchst erbaut nach Hause.
Es würde wohl recht uninteressant und eintönig in der Welt zugehen, wenn ein so nüchternes Gebilde wie die Wissenschaft an die Stelle dieser bunten, schwärmerischen Vorstellungen treten würde. Vielleicht sollten wir uns freuen, dass es Menschen wie die alles profane Wissen ablehnenden Wiedertäufer geben konnte, die das Erlernen des Abc für Sünde hielten, oder den südamerikanischen Jesuiten, der sich absolut nicht zu erklären vermochte, wie das Faultier in der kurzen Zeit seit der Sintflut den weiten Weg vom Berge Ararat bis nach Peru hatte zurücklegen können – eine Leistung, die bei der schon sprichwörtlich langsamen Fortbewegung dieses Geschöpfes ans Wunderbare grenzte.
Den wahrhaft weisen Mann freut alles, was in Hülle und Fülle vorhanden ist, nichts aber wurde ihm je reichlicher geliefert auf dieser Welt als der
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