Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
weitet. Auf dem Gebiet des Gefühlslebens bedarf es eines ganz ähnlichen Hinauswachsens über das rein Persönliche, wenn ein Mensch wahrhaft zivilisiert sein soll. Menschen pilgern von der Wiege bis zur Bahre, manchmal glücklich, manchmal unglücklich; manche großmütig, andere habgierig und kleinlich; manche heldenhaft, andere feig und sklavisch. Wer diese Prozession als Ganzes an sich vorüberziehen lässt, wird gewisse Dinge bewundern müssen. Einige Menschen waren von Liebe zur Menschheit beseelt; andere haben mit ihrem glänzenden Verstand zu unserer Erkenntnis der Welt, in der wir leben, beigetragen; und wieder andere haben, begabt mit außergewöhnlicher Empfindung, der Schönheit Gestalt verliehen. Diese Menschen haben etwas wirklich Gutes geschaffen, um die lange Geschichte der Grausamkeit, der Unterdrückung und des Aberglaubens aufzuwiegen. Sie haben getan, was in ihren Kräften stand, um aus dem menschlichen Leben etwas Besseres zu machen als den kurzen Kriegstanz von Wilden. Wo der zivilisierte Mensch nicht bewundern kann, wird er eher zu verstehen als zu verwerfen trachten. Er wird es vorziehen, die unpersönlichen Ursachen des Übels aufzuspüren und zu beseitigen, statt die Menschen zu hassen, die ihm verfallen sind. All dies sollte im Hirn und im Herzen des Lehrers lebendig sein; lebt es darin, so wird er es in seinem Unterricht an die Jugend weitergeben, die ihm anvertraut ist.
Niemand kann ein guter Lehrer sein, wenn er seinen Schülern nicht von Herzen zugetan ist und den aufrichtigen Wunsch hegt, ihnen das weiterzugeben, was ihm selbst für wertvoll gilt. Der Propagandist hingegen denkt und fühlt anders. Für ihn sind seine Schüler zukünftige Soldaten einer Armee. Sie sollen einmal Zielen dienen, die über ihr Leben hinausgehen, und zwar nicht in dem Sinn, in dem jedes große Ziel über das eigene Selbst hinaushebt, sondern als Handlanger ungerechter Privilegien und despotischer Macht. Der Propagandist gönnt seinen Schülern den Überblick über das Weltgeschehen und die freie Wahl eines Zieles, das ihnen wertvoll erscheint, nicht; er will vielmehr, gleich einem Kunstgärtner, die jungen Bäumchen nach seinem Sinne heranziehen und biegen. Indem er so ihr natürliches Wachstum verkrüppelt, vernichtet er nur zu leicht in ihnen allen hochherzigen Lebensmut und ersetzt ihn durch Neid, Zerstörungswut und Grausamkeit. Der Mensch hat es nicht nötig, grausam zu sein; ich bin im Gegenteil überzeugt, dass alle Grausamkeit von gewaltsamen Eingriffen herrührt, die Menschen in ihrer Jugend erlitten haben, besonders von solchen, die das Gute in ihnen erstickten.
Leidenschaftliche Unterdrückung und Gesinnungsterror sind sehr weit verbreitet, wie die derzeitige 'Weltlage nur zu deutlich beweist. Sie sind aber keineswegs im Charakter des Menschen angelegt. Sie sind im Gegenteil meines Erachtens immer die Folge irgendeines unglücklichen Zustandes. Es müsste eine der Aufgaben des Lehrers sein, seinen Schülern die Augen zu öffnen und ihnen zu zeigen, welch ein reiches Arbeitsfeld, freudebringend und nutzbringend zugleich, sie erwartet, und so das Gute in ihnen freizumachen und den Wunsch, andere der Freuden zu berauben, die ihnen selbst entgehen werden, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Viele Menschen verwerfen das Glücklichsein als Lebensziel für sich selbst wie für andere; doch drängt sich leicht der Verdacht auf, dass ihnen die Trauben zu sauer sind. Wenn jemand auf persönliches Glück zugunsten des Gemeinwohls verzichtet, so ist das noch lange nicht dasselbe, als wenn er das Glück der Allgemeinheit als unwichtig beiseite schiebt. Und dennoch geschieht dies oft im Namen eines angeblichen Heroismus. Wer so handelt, hat meist eine grausame Ader in sich, der wahrscheinlich unbewusster Neid zugrunde liegt; die Quelle dieses Neides wird man in den meisten Fällen in der Kindheit oder Jugend des Betreffenden entdecken. Ziel des Erziehers sollte es sein, Erwachsene heranzubilden, die von solchen seelischen Mängeln frei sind und nicht trachten, anderen ihr Glück zu rauben, weil man es auch ihnen nicht geraubt hat.
Wie die Dinge heute liegen, sind viele Lehrer nicht in der Lage, ihr Bestes zu geben. Dafür gibt es viele Gründe; einige davon sind mehr oder weniger zufällig, andere sehr tief eingewurzelt. Was die erstgenannten betrifft, so sind viele Lehrer überarbeitet und müssen ihre Schüler mehr auf Prüfungen vorbereiten, statt ihnen eine aufklärende Geistesbildung vermitteln zu
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